Wissen um die eigene Schwerstbehinderung kann Schmerzensgeldansprüche erhöhen
Judith MeisterEin schwerstbehindert geborenes Kind muss wegen seiner (erhaltenen) kognitiven Fähigkeiten das Ausmaß seiner Gesundheitsprobleme tagtäglich bewusst spüren. Sein Schmerzensgeldanspruch gegen die Geburtshelfer ist daher deutlich höher als der von Kindern ohne ein vergleichbares geistiges Vermögen.
Ein falsch interpretiertes CTG. Die verspätete Reaktion auf einen auffälligen Befund. Eine falsche Entscheidung unter enormem Zeitdruck. All das kann in der Geburtshilfe dramatische Folgen haben. So auch in einem Fall, über den vor Kurzem das Oberlandesgericht Hamburg befinden musste.
Im konkreten Fall hatte die Mutter eines schwerbehindert geborenen Jungen für ihren Sohn auf Schadenersatz und Schmerzensgeld geklagt. Sie hatte argumentiert, dass bei der Geburt ihres Kindes gegen den zu dieser Zeit geltenden medizinischen Standard verstoßen worden sei. Der Klinikträger widersprach– hatte vor Gericht aber keinen Erfolg (Az.1 U 95/23).
Verkennung des Arztvorbehaltes für die Geburtsleitung als grober Behandlungsfehler
Der Senat befand, dass es als „unverständlich“ zu werten sei, dass die Hebamme in der Austreibungsphase keinen Facharzt gerufen hatte, obwohl das CTG bereits einen pathologischen Befund aufwies, den die Hebamme auch erkannt hatte.
Das CTG hatte zu diesem Zeitpunkt bereits suspekte Veränderungen der kindlichen Herzfrequenz gezeigt, später sogar mit Zunahme des prognostischen Schweregrades. Dass unter der Geburt dennoch keine konstante Überwachung der Unterbrechung der Überwachung der Herzfrequenz erfolgte, war nach Aussage des Sachverständigen nicht standardgerecht und damit grob behandlungsfehlerhaft.
Richtig wäre es gewesen, zeitgleich mit der Austreibungsphase durchgehend die Überwachung der kindlichen Herztöne sicherzustellen und einen Facharzt für Geburtshilfe zur Geburtsüberwachung hinzuzuziehen.
Belastendes Wissen um die eigenen Defizite
Das Kind trug aufgrund dieser (und weitere Fehler) eine schwerste hypoxisch-ischämische Encephalopathie mit zahlreichen Folgeschäden davon: Bis heute kann der Junge nur mit Hilfsmitteln bzw. Unterstützung sitzen, stehen und sich bewegen. Er muss jede Nacht mehrfach umgelagert werden und pro Nacht mindestens ein bis zwei Litern Sauerstoff erhalten. Wegen zahlreicher schwerer Bronchitiden und Pneumonien war er bereits mehrfach in stationärer Behandlung und leidet unter häufiger Übelkeit und wiederholtem, auch heftigem Erbrechen.
Der Junge ist in allen Situationen des täglichen Lebens – auch in der Schule – auf die Hilfe von mindestens einer Pflegekraft angewiesen. Allerdings weist er keine schweren kognitiven Einschränkungen auf und ist empfindungsfähig. Er kommuniziert mit Hilfe eines Talkers, den er mit den Augen steuert. Auch kann er lesen und Ende des Jahres 2022 bei dem Besuch der 10. Klasse einer Sonderschule im Zahlenraum bis 20 rechnen. Bereits in der ersten Instanz schrieb das Gericht dazu, der Junge sei „in seinem eigenen Körper gefangen“.
Dieses schwere Schicksal führt das OLG auf den groben Fehler der Hebamme zurück, der zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Jungen führe. Zudem sei auch der Pädiaterin in der weiteren Behandlung ein Fehler unterlaufen, da sie die vorliegenden Ergebnisse der Blutgasanalyse IV unbeachtet gelassen habe. Dadurch sei der hochpathologische pCO2-Wert nicht bemerkt worden, zu einem Zeitpunkt, als man noch positiv auf das Geschehen hätte einwirken können.
Das OLG sprach dem Jungen daher ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 800.000 Euro zu.
Kasten: Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) – Ursachen, Diagnostik und Therapie
Die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) ist eine akute oder subakute Schädigung des Gehirns, die durch Sauerstoffmangel (Hypoxie) und reduzierte Durchblutung (Ischämie) entsteht. Sie tritt häufig perinatal auf, kann aber auch durch kardiovaskuläre Ereignisse, respiratorische Insuffizienz oder andere systemische Erkrankungen im Erwachsenenalter verursacht werden.
Ursachen:
Neonatal: Perinatale Asphyxie, Plazentainsuffizienz, Nabelschnurkompression, mütterliche Hypoxie
Erwachsene: Schlaganfall, kardiogener Schock, schwere Hypotension, Herz-Kreislauf-Stillstand, respiratorische Insuffizienz, Vergiftungen
Symptome: Die klinische Präsentation hängt von der Schwere der Hypoxie und der betroffenen Gehirnregion ab:
Leicht: Reversible neurologische Symptome wie Verwirrtheit, leichte motorische Einschränkungen
Mittelgradig: Bewusstseinstrübung, Myoklonien, Spastik, epileptische Anfälle
Schwer: Koma, schwere motorische Defizite, persistierende Krampfanfälle, Ateminsuffizienz
Diagnostik:
Bildgebung: MRT mit Diffusionsgewichtung zur Detektion von hypoxischen Läsionen
Labor: Laktat, Blutgasanalyse, Elektrolyte zur Beurteilung der metabolischen Situation
EEG: Überwachung auf epileptische Aktivität und Enzephalopathiezeichen
Therapie:
Akutphase: Sicherung der Oxygenierung, hämodynamische Stabilisierung, Temperaturmanagement (Hypothermie-Therapie in der Neonatologie), Krampfkontrolle mit Antikonvulsiva
Langzeittherapie: Neurorehabilitation, physio- und ergotherapeutische Maßnahmen, Behandlung kognitiver und motorischer Defizite
Prognose: Die Prognose hängt von der Dauer und Schwere der Hypoxie sowie der frühzeitigen therapeutischen Intervention ab. Während leichte Fälle reversibel sein können, führen schwere Verläufe häufig zu bleibenden neurologischen Schäden oder zum Tod.
Wichtiger Hinweis für Allgemeinmediziner: Patienten mit hypoxischen Ereignissen und neurologischen Auffälligkeiten sollten frühzeitig zur weiterführenden Diagnostik und Therapie in spezialisierte Zentren überwiesen werden. Bei perinataler Asphyxie kann eine frühzeitige Hypothermie-Therapie innerhalb von sechs Stunden die Prognose verbessern.