Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxisführung
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Am Rande der Lüneburger Heide, zwischen Bremen und Hamburg, liegt Scheeßel. In der beschaulichen Gemeinde in Niedersachsen mit rund 13.000 Einwohnern praktiziert Dr. Jan Gerlach mit seinem Team als Hausarzt. Wie bei vielen anderen Praxen setzen er und sein Team auf Digitalisierung, gehen dabei aber einen Schritt weiter. In der sogenannten „Avatarpraxis“ sind viele Prozesse durchdigitalisiert.

Patientinnen und Patienten können zum Beispiel online einen Termin buchen und sich in der Praxis vor Ort über ein Self-Check-in-Terminal mit ihrer Gesundheitskarte einloggen. Zur Behandlung und zur Anamnese steht ihnen unter anderem ein Chat-Messenger für die Kommunikation mit dem ärztlichen Team und eine Patientenapp zur Verfügung.

In dieses innovative Konzept haben Jan Gerlach und seine Ehefrau Tanja Gerlach viel Herzblut reingesteckt. Sie ist Innovationskoordinatorin in der Arztpraxis und übernimmt in ihrer Funktion viele administrative Aufgaben rund um die Betreuung der digitalen Praxis. „Innerhalb von fast drei Jahren haben wir ohne Fördermittel in Eigenregie an dieser Hybridlösung gebastelt“, sagt Gerlach im Gespräch mit ARZT & WIRTSCHAFT. Ohne Fördermittel bedeutet, dass sie zusammen mit ihrem Mann 130.000 Euro in den Aufbau dieses Praxismodells investiert hat. „Die Avatarpraxis ist im Grunde genommen eine Optimierung der vorhandenen Hausarztpraxis. Wir wollen nicht die alten Elemente wegnehmen, sondern sie sinnvoll ergänzen.“    

Die Digitalisierung schafft mehr Flexibilität in der Praxis

Dazu gehört auch, die Abläufe in der Praxis neu anzupassen. Ein Arzt kümmert sich gemeinsam mit MFAs und Wundmanagern um die Patientenversorgung vor Ort, daneben gibt es Ärztinnen und Ärzte, die per Videosprechstunde ins Sprechzimmer zugeschaltet werden. Über das Praxisverwaltungsprogramm übermitteln Diagenosegeräte dann die Ergebnisse in Echtzeit an den aus der Ferne zugeschalteten Arzt. „Wir möchten so Patienten, die die Praxis als vertraute Umgebung brauchen, niedrigschwellig abholen,“ so Gerlach.

Gleichzeitig soll dieses Konzept die Arbeit für angestellte Ärzte so attraktiv wie möglich machen. „Die Ärzte müssen nicht immer zwingend vor Ort in Scheeßel sein, wir können sie auch aus dem Home-Office in der Großstadt einsetzen.“ So konnte das Team um Jan und Tanja Gerlach zum Beispiel eine Ärztin aus Hamburg gewinnen, die für die Patientenversorgung teilweise von zuhause aus arbeitet.

Das flexible Arbeitsmodell soll außerdem die neue Ärztegeneration ansprechen und Themen wie eine bessere Work-Life-Balance sowie eine Konzentration auf medizinische Tätigkeiten adressieren. Für Tanja Gerlach verändert sich auch das ärztliche Selbstverständnis. „Es wird viel über die neue Ärztegeneration geredet, aber kaum einer spricht mit denen selbst. Ich finde es daher überheblich zu sagen, dass sie überhaupt nicht mehr arbeiten möchten. Sie möchten weniger redundant arbeiten.“

Beispiele für digitale Anwendungen in der Avatarpraxis

Und genau hier kommen laut Gerlach die digitalen Features ins Spiel, um die Redundanz zu verringern. Bei Hausbesuchen oder Visiten im Altersheim kommt etwa der telemedizinische Koffer zum Einsatz, der es ermöglicht, ein mobiles Sprechzimmer zu errichten. Für die Hausbesuche sind in der Avatarpraxis in Scheeßel die MFA und die NäPA zuständig, die Ärzte diagnostizieren aus der Ferne und werden so entlastet. Ein weiterer technischer Helfer ist das KI-gestützte Langzeit-EKG, das mithilfe von Künstlicher Intelligenz alle relevanten Werte auswertet. „Unsere kardiologische Internistin war erst skeptisch, aber nachdem sie drei bis vier Wochen mit dem Gerät gearbeitet hat, denkt sie sich fast, sie sei überflüssig“, scherzt Gerlach.

Dabei lief es nicht immer reibungslos. Die neuen Abläufe und die Technik zu integrieren, war laut der Innovationskoordinatorin ein langwieriger Prozess und gerade zu Beginn auch sehr holprig. Aber Tanja Gerlach und ihr Mann haben von Anfang an die Ärmel hochgekrempelt und eine „Hands-on-Mentalität“ an den Tag gelegt. „Wir saßen teilweise noch spät am Abend vor dem Rechner und haben uns überlegt, wie wir die gesamte technische Infrastruktur unter einen Hut bringen.“

Eine große Herausforderung war es hier, wegzukommen von Insellösungen und auf interoperable Systeme zu setzen. Mit den ärztlichen Behörden war die Zusammenarbeit insgesamt positiv, resümiert Gerlach: „Die KV Niedersachsen hat uns bei unserem Vorhaben immer unterstützt, auch die Ärztekammer, obwohl sie am Anfang noch eher skeptisch war.“

Wie es mit dem innovativen Konzept weitergehen soll

Die nächsten Schritte stehen auch bereits fest. Im April 2025 geht planmäßig eine weitere Avatarpraxis in Zeven an den Start, circa 23 Kilometer von Scheeßel entfernt. Hier sollen nicht nur Hausärztinnen und -ärzte die ambulante Versorgung abbilden. „Wir wollen weitere Facharztrichtungen wie zum Beispiel die Pädiatrie in den Standort Zeven integrieren“, sagt Gerlach. Ihre Vision ist es, dass sich auf lange Sicht nicht nur Hausärzte, sondern auch Fachärzte per Videosprechstunde um die Behandlung in einer ländlich geprägten Gegend kümmern.

Generell machen sich Tanja und Jan Gerlach viele Gedanken darüber, wie die medizinische Versorgung auf dem Land bei knappen personellen Ressourcen aufrechterhalten werden kann. Daher planen sie derzeit auch eine Avatarpraxis auf Rädern, ein sogenanntes AVA-Mobil. Mit dieser telemedizinischen Innovation können speziell ausgebildete MFA für die Ärztinnen und Ärzte die Bereiche abfahren, in denen kein Arzt mehr vor Ort ist. Bei Bedarf können sich die Ärzte in den ehemaligen Rettungswagen zuschalten lassen.

Beide wollen außerdem ihr Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben. „Die Praxis in Zeven soll auch ein Thinktank werden, wo wir anderen Ärzten oder MFA möglichst niedrigschwellig zeigen, wie die Systeme für unser Konzept funktionieren.“ Neben dem geplanten Thinktank kooperieren sie auch mit der Universität Oldenburg und planen dort ein MVZ als erste digitale akademische Lehrpraxis zu errichten.

Bis dahin geht der digitalisierte Praxisalltag in Scheeßel seinen gewohnten Gang und den honorieren die Patientinnen und Patienten. „Die Resonanz ist absolut positiv“, resümiert Tanja Gerlach. „Unsere Patienten machen voll mit, auch die Älteren nutzen unsere App oder buchen inzwischen ihre Termine online. Sehr begeistert sind auch die Bewohner im Pflegeheim und deren Angehörige, weil für sie Digitalisierung nicht mehr als etwas Abstraktes wahrgenommen wird.“ Dass sie in diesem Fall durch die Telemedizin besser in Kontakt mit den Ärzten treten können, helfe ihnen sehr, meint Gerlach. Und es zeigt auch, dass innovative Lösungen für eine Arztpraxis mittlerweile realisierbar sind.    

 

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