Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Im Praxisalltag kommt es besonders darauf an, dass die Abläufe funktionieren: Zum Beispiel, dass Patientinnen und Patienten sich gut betreut fühlen, auch wenn viel Betrieb herrscht – oder dass das Telefon nach Möglichkeit immer besetzt ist und Anfragen schnell und kompetent beantwortet werden. Alle Praxisangestellten bringen dabei ihre Fähigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen ein, um im Teamverbund effektiv zu arbeiten und Praxisinhaberinnen und -inhaber zu entlasten.

Die Fähigkeiten und Stärken eines jeden Einzelnen können auch dazu dienen, die Aufgabenverteilung innerhalb des Praxisteams neu zu denken. Vielleicht kann die MFA hinter dem Tresen ihr Potenzial besser entfalten, wenn sie bei der Abrechnung unterstützt? Oder die Auszubildende traut sich mehr zu und schafft es mit ihrer einfühlsamen Art, den Telefonverkehr in der Praxis mit aufzufangen? Um die Abläufe zu optimieren, kann es also sinnvoll sein, die individuellen Stärken innerhalb des Teams neu zu evaluieren.

Definition und Bedeutung von Stärken

Der US-amerikanische Psychologe Ryan M. Niemiec bezeichnet Stärken als positive Eigenschaften oder Fähigkeiten, die persönlich erfüllend sind und andere nicht schmälern. Sie sind seiner Auffassung nach allgegenwärtig und kulturübergreifend geschätzt und führen zu zahlreichen positiven Ergebnissen für sich selbst und andere. Er ist damit ein Vertreter der Positiven Psychologie: Sie konzentriert sich auf positive Aspekte des Menschseins und stellt beispielsweise Glück, Optimismus, individuelle Stärken, Vergebung oder auch Solidarität in den Mittelpunkt – anders als die klinische Psychologie, die meistens die Defizite betrachtet.

Aus diesen Überlegungen heraus gründeten Psychologen in den USA das „Values in Action Institute“ (inzwischen umbenannt in VIA Institute on Character) und entwickelten gemeinsam mit Sozialwissenschaftlern das VIA-Modell, das kultur- und geschichtsübergreifend sechs Tugenden und 24 Charakterstärken klassifiziert. Zu den übergeordneten Tugenden zählen

  • Wissen und Weisheit

  • Mut

  • Menschlichkeit

  • Gerechtigkeit

  • Mäßigung

  • Transzendenz

Die unter diesen Tugenden charakterisierten Stärken beeinflussen sich gegenseitig und können auch durch Rahmenbedingungen bestimmt sein. Heißt: Im Arbeitsumfeld kommen bestimmte Eigenschaften vielleicht stärker zum Vorschein als im privaten Bereich – das Stärkeprofil eines jeden Menschen ist somit stets individuell.

Individuelle Stärkeprofile im Team erstellen

Übertragen auf die Arztpraxis können Niedergelassene so das Stärkeprofil ihres Teams erörtern und bewerten. Das funktioniert am besten durch gezielte Fragestellungen wie „In welchen Situationen zeigt ihr euch besonnen?“ oder „Was gibt euch in eurer täglichen Arbeit Kraft?“. Eine verallgemeinernde Frage zu Stärken ist hier nicht zielführend, da die charakterlichen Eigenschaften viele Facetten haben können. Stattdessen sollten verschiedene Szenarien im Praxisalltag thematisiert werden, in denen Stärken zur Geltung kommen. 

Niemiec beschreibt diese Vorgehensweise in drei Stufen. Kommen Stärken in einer Arbeitssituation perfekt zur Geltung (optimal use) oder zu wenig (underuse) beziehungsweise übermäßig (overuse)? Der Psychologe skizziert dazu ein Beispiel aus einer Teambesprechung:

  • Ein Mitarbeiter lockert die Besprechung durch eine humorvolle, aber nicht zu ausschweifende Geschichte auf

  • Er besinnt sich demzufolge auf „Humor“ als Stärke. Würde er weitere Witze hintereinander erzählen, zöge er das Meeting unnötig in die Länge - folglich läge ein „overuse“ von Humor vor

Indem alle – vom Arzt über MFA bis hin zu den Auszubildenden – ihr Handeln in verschiedenen Szenarien nach dieser Vorgehensweise reflektieren, kann auch ein konstruktiver und fruchtbarer Austausch entstehen, der die jeweiligen Soft Skills hervorhebt. Dieses Modell ist letztendlich auch für Ärztinnen und Ärzte selbst eine Stütze: Sie kann neue Wege bei der Interaktion mit ihren Patienten aufzeigen und diese im besten Fall nachhaltig verbessern.