Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Klinik

Ein Mechaniker mit Karpaltunnelsyndrom wird arbeitslos, weil er monatelang auf Termine und Untersuchungen warten muss, eine 22-jährige mit dauernden Blutungen muss sich bei fünf verschiedenen Fachärzten vorstellen, ehe ihre Beschwerden ernst genommen werden, ein alleinstehender alter Mann wird mit starken Schmerzen und allen Anzeichen einer Entzündung aus der Notaufnahme nach Hause geschickt. Einzelfälle? Nein. Diese und andere Geschichten von schlecht versorgten Patienten sind Symptom eines schwer kranken Gesundheitssystems.

Als Ergebnis des überlasteten und fehlgeleiteten deutschen Gesundheitswesens häufen sich in der stationären Patientenversorgung und auf Notfallstationen, aber auch in ambulanten Praxen die sogenannten Einzelfälle. Denn das gesamte System richtet sich an wirtschaftlichen Kennzahlen aus, anstatt am Wohl der Kranken. Krankenhäuser sind zu Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb verdammt, relevante „Stakeholder“ wie Krankenkassen, Krankenhauskonzerne und Pharmaindustrie sowie Bundesländer und Arztverbände haben eher die eigenen Interessen im Auge als die Gesundheit der Bevölkerung, Schreibtischmediziner beim MD blicken auf Zahlen statt auf Patientenschicksale und schließlich gibt es Fachmediziner, die vom überweisenden Arzt indizierte Untersuchungen zu IGeL-Leistungen erklären und privat bezahlen lassen.

Es begab sich im Jahr 2004 …

Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz im Jahr 2004 und dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz von 2015 hat die Politik den Einstieg privater Investoren gefordert und gefördert – ohne, dass es dazu die notwendige große Debatte gegeben hätte. Inzwischen besitzen manche Krankheiten einen „Wert“, andere führen zu „Verlusten“. Unser Gesundheitssystem ist mit einem Virus namens Private Equity infiziert.

Lukrative Gesundheitsleistungen werfen Gewinne ab – und werden privatisiert. Gleichzeitig leiden die Grund- und Notfallversorgung unter einem eklatanten Finanzierungsmangel und dort entstehende Verluste trägt die Solidargemeinschaft. Wenn Patientinnen und Patienten schlecht, gar nicht oder zu spät versorgt werden, dann häufig deshalb, weil betriebswirtschaftliche Entscheidungen über eine medizinische Beurteilung gestellt wurden. Ein weiteres Problem ist der Personalmangel, der ebenfalls Wirtschaftlichkeitsüberlegungen geschuldet ist.

Gleichzeitig zu viel und zu wenig

In Deutschland existieren zudem gleichzeitig eine Über- und eine Unterversorgung: Auf der einen Seite steht eine doppelte Facharztstruktur mit (theoretisch) direktem Facharztzugang, zu vielen Krankenhausbetten (nach Einschätzung verschiedener Expertinnen und Experten) und einer Überdiagnostik aufgrund mangelnder Kommunikation zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Auf der anderen Seite sind bestimmte Facharztgruppen kaum noch zugänglich, bestehen unendlich lange Wartezeiten und es gibt fragwürdige Anreize für kostenintensive Diagnostik.

Noch dazu gehen wichtige Informationen aufgrund der mangelnden Kommunikation zwischen den Sektoren verloren, fehlt es bisher an einer funktionierenden und deshalb hilfreichen Digitalisierung im medizinischen Bereich.

Schlechte medizinische Versorgung entwickelt sich so vom Einzelfall zum Standard. Damit sich das wieder ändern kann, bedarf es einer gesellschaftlichen Diskussion ohne Scheuklappen. Die begrenzten finanziellen Mittel der Solidargemeinschaft müssen verantwortungsbewusst und wirtschaftlich eingesetzt werden. Aber der erste Gedanke muss den Patienten gelten – und nicht dem Gewinn. Eine Arzt-Patienten-Beziehung darf keine Verkäufer-Kunden-Beziehung sein, sondern muss von menschlich-moralischem Handeln geprägt werden. Wenn es diesem Anspruch (wieder) gerecht wird, ist das deutsche Gesundheitswesen auch selbst wieder gesund.

Buchcover Medizin zwischen Moral und Moneten*Die Autorin:

Dr. Laura Dalhaus, Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxis im Münsterland, hat einen Master im Bereich „Health Management“, war mehrere Jahre als Notärztin im Einsatz und hat zahlreiche Zusatzqualifikationen in der Stress- und Sportmedizin, sowie in den Bereichen Gesundheitsförderung, Prävention und Ernährungsmedizin. Ihr umfassendes Wissen, aber auch ihre Empörung und Verzweiflung angesichts des Zustandes des deutschen Gesundheitswesens, teilt sie in ihrem aktuellen Buch „Medizin zwischen Moral und Moneten“.