Akademisierung des Gesundheitswesens: eine Herausforderung für die Ärzteschaft
Johannes T. KayserInternationale Vergleiche zeigen deutliche Unterschiede in der Ausbildung und den Kompetenzen von Pflegekräften und medizinischem Personal. So studieren auch in Deutschland immer mehr Pflegekräfte. Tatsächlich hätte eine höhere Akademikerquote viele Vorteile für das deutsche Gesundheitssystem.
Deutschland und die Akademisierung der Pflege im internationalen Vergleich
Deutschland hinkt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden bei der Akademisierung der Pflege hinterher. So können beispielsweise an der Universität Malmö im Bereich der Pflege sämtliche Studiengänge und -abschlüsse vom Bachelor und Master bis zur Habilitation erworben werden. Liegt in Deutschland die Akademisierungsquote in der Pflege bei gerade ein bis zwei Prozent, so liegt der Anteil in den Niederlanden bei 45 % – in Schweden und Großbritannien bei 100%.
Tatsächlich wird im internationalen Vergleich für die Tätigkeit als Pflegefachperson häufig ein Bachelorabschluss sogar vorausgesetzt. Diese akademischen Qualifikationen gehen auch mit einem deutlich höheren Kompetenzerwerb einher. Advanced Practice Nurses, welche über einen Masterabschluss verfügen, können und dürfen beispielsweise eigenverantwortlich Diagnosen stellen und Heil- und Hilfsmittel sowie Medikamente verordnen.
In Deutschland ist man von so weit reichenden Kompetenzen noch weit entfernt, jedoch gibt es mit dem vorläufigen Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums zum Pflegekompetenzgesetz das Bestreben, Kompetenzen von Pflegekräften deutlich zu stärken. So wird unter anderem vorgeschlagen, das Berufsbild der „Advanced Practice Nurse“ nach internationalem Vorbild auch in Deutschland einzuführen und Befugnisse von Pflegekräften im Bereich der häuslichen Krankenpflege zu erweitern. Demnach könnten masterqualifizierte Pflegekräfte weitergehende Befugnisse im Rahmen der Verordnung von häuslicher Krankenpflege, von Hilfsmitteln und ggf. von bestimmten Arzneimitteln bekommen.
Die Landschaft der Pflegestudiengänge in Deutschland
Bis heute ist die berufliche Pflegeausbildung die dominierende Qualifikation unter Pflegekräften; die Akademisierungsquote liegt in der Pflege bei nur 1,74%. Seit den 1970er Jahren gibt es in Deutschland erste Pflegestudiengänge, jedoch mit dem Fokus auf Pflegemanagement und –pädagogik. Erst deutlich später entwickelten sich pflegewissenschaftliche Studiengänge. Seit 2010 nahm das Angebot deutlich zu. 2022 gab es 46 Hochschulen, die Studiengänge mit dem Berufsabschluss Pflegefachfrau/ -mann ausbildungsbegleitend, ausbildungsintegrierend oder primärqualifizierend angeboten haben. Die sogenannten primärqualifizierenden Studiengänge schließen einerseits mit einem akademischen Grad (B. A. oder B. Sc.) und einer staatlichen Abschlussprüfung zur Pflegefachfrau bzw. -mann ab, die damit zur unmittelbaren Pflegetätigkeit am Menschen berechtigt.
Physician Assistants in Deutschland: Bindeglied zwischen Ärzteschaft und Pflege?
Aktuell werden in Deutschland an einigen Kliniken etwa 700 bachelorqualifizierte Physician Assistants eingesetzt, welche durch Delegation ausgewählte ärztliche Aufgaben durchführen können. Sie wirken beispielsweise bei der Erstellung von Diagnosen, komplexen Untersuchungen oder Eingriffen mit. So können auch orientierende sonografische Untersuchungen verschiedener Organsysteme eigenständig durchgeführt werden. Als Anhaltspunkt haben die Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung einen Kompetenzkatalog (https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Fachberufe/Physician_Assistant.pdf , S. 15 ff.) für die Arbeit von Physician Assistants veröffentlicht.
Vorteile einer akademisierten Pflege
Nach internationalen Studien besteht ein Zusammenhang zwischen der Anzahl akademisch qualifizierter Pflegekräfte und der Versorgungsqualität. So sanken vor allem bei chirurgischen Patienten die Mortalitätsrate, die Anzahl der Todesfälle nach erlittenen Komplikationen (Failure Rescue) und die Dekubitusrate. Zudem konnte auch – jedoch in geringerer Intensität – eine Verbesserung der Outcomes festgestellt werden. Ebenso können durch akademisch ausgebildete Pflegekräfte neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie Assessmentinstrumente zur Schmerz-, Dekubitus- oder Sturzerfassung implementiert und so die Qualität verbessert werden.
Darüber hinaus sind auch betriebswirtschaftliche Vorteile durch die verbesserte Patientenversorgung möglich. So könnte eine kompetente Fall-, Vor- und Nachsorgesteuerung die Reduzierung der Verweildauer bewirken und Versorgungsbrüche nach der Entlassung und den Eintritt des Drehtüreffekts verhindern. Die Implementierung und der Transfer von Wissen innerhalb der Berufsgruppe können unerwünschte Ereignisse, Komplikationen und Risiken verringern. Dies kann sich auch wirtschaftlich vorteilhaft auswirken.
Zudem deutet eine Studie darauf hin, dass Pflegekräfte in Krankenhäusern mit einem umfassenderen, akademisierten Qualifikationsmix eine höhere Berufszufriedenheit haben und weniger Burnout gefährdet sind, was Fluktuationen und Pflegekräftemangel verhindern kann.
Risiken und Herausforderungen akademisch qualifizierter Pflegekräfte
Es kann das Risiko bestehen, dass akademisierte Pflegekräfte oder Physician Assistants eigenmächtig (nicht delegierbare) Aufgaben an sich ziehen, Ärzte nicht rechtzeitig um Rat fragen und ihre eigenen Grenzen überschätzen.
Darüber hinaus berichteten akademisch qualifizierte Pflegekräfte bei einer qualitativen Studie, dass sie sich unmittelbar nach ihrem Studium nicht gut auf die Praxis vorbereitet fühlten. Diese Unsicherheit und fehlende Handlungssicherheit wird insbesondere in der Phase der Berufseinmündung beschrieben. Jedoch ist zu beachten, dass es sich um Selbsteinschätzungen der Befragten handelt. Noch ist unklar, inwieweit diese Empfindungen der Studierenden objektiv verifizierbar sind und sich tatsächlich ein in der Berufseinmündung schwächerer Leistungsstand im Vergleich zu beruflich Ausgebildeten zeigt.
Vermeidung von Risiken
Um diese Risiken so gering wie möglich zu halten, sollte klar geregelt werden, welche (ärztlichen) Aufgaben die akademisch qualifizierten Fachkräfte ausüben sollen. Die Einhaltung dieser Grenzen sollte konsequent kontrolliert werden. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die Ausübenden die delegierten Tätigkeiten beherrschen.
Zudem sollten Führungskräfte sensibilisiert werden, dass sich gerade frisch akademisch qualifizierte Pflegekräfte oder Physician Assistants in der Praxis noch nicht so sicher fühlen und möglicherweise während ihres Studiums unzureichend für praktische Tätigkeiten ausgebildet wurden. Neben einer individuellen und wertschätzenden Einarbeitungsphase, guter Praxisanleitung, Feedbackgesprächen und Überwachung, können auch Mentorenprogramme in Betracht gezogen werden.
Aktueller Stand der Akademisierung im Gesundheitswesen
Die Akademisierung des Gesundheitswesens – allen voran der Pflegekräfte – steht in Deutschland am Anfang. Noch dominiert die berufliche Ausbildung. Jedoch studiert immer mehr nichtärztliches Personal, welches dann auch der Qualifikation entsprechende, anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben möchte. Sonografien durchführen oder Wunden nähen durch nichtärztliches Personal war bis vor kurzem noch undenkbar – heute übernehmen die-se Aufgaben (teilweise) Physician Assistants mit einem Bachelorabschluss. Diese Entwick-lung wird weiter gehen und scheint unumkehrbar. So steht die Ärzteschaft vor großen Her-ausforderungen, wie eine kompetenzentsprechende Aufgabenverteilung und wertschätzende Zusammenarbeit mit den neuen akademisch qualifizierten Berufsgruppen aussehen kann. Jedenfalls wird der Arzt von morgen nicht mehr die Aufgaben von heute ausüben.