CME-Fortbildung: Suizidwunsch in der hausärztlichen Praxis
Ina ReinschKünftig könnten mehr Patientinnen und Patienten mit dem Wunsch nach Suizidassistenz ihre Hausärztinnen und Hausärzte konsultieren. Eine Leitlinie gibt Hinweise zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz. Sie ermutigt Ärztinnen und Ärzte, eine eigene Haltung zu finden, und zeigt, wie sie angemessen kommunizieren.
Frau B. ist multimorbid und 84 Jahre alt. Sie lebt noch allein in einem Reihenhaus und hat Pflegestufe 1. Seit sie sich wegen ihrer nachlassenden Sehfähigkeit und einer rheumatischen Erkrankung nicht mehr getraut, das Haus zu verlassen, wirkt sie zunehmend deprimiert. Das fällt auch ihrer Hausärztin auf, die zu einem Haubesuch kommt. „Wie geht es Ihnen denn jetzt?“, fragt die Hausärztin, „Sind Sie noch zufrieden mit Ihrem Leben?“ „Ach ja“, entgegnet Frau B., „es ist schon schwer. Und immer diese Schmerzen. Wenn es doch nur bald vorbei wäre …“ „Das wird schon“, ermutigt die Hausärztin ihre Patientin.
Am Abend geht der Ärztin das Gespräch mit Frau B. nicht aus dem Kopf. Hat diese da etwa leise geäußert, nicht mehr leben zu wollen? Und nein, bei Frau B. wird es nicht mehr besser, sondern eher schlechter. Die Hausärztin nimmt sich vor, in dieser Woche noch einmal bei Frau B. vorbeizuschauen.
Das Ansprechen eines Sterbewunsches kann entlastend wirken
Der Umstand, dass manche Menschen aus unterschiedlichen Gründen den Wunsch haben, sterben zu wollen, kommt langsam aus der Tabuzone heraus. Inzwischen weiß man, dass Reden besser ist als Schweigen. Schon das Ansprechen von Todeswünschen durch die behandelnde Ärztin oder den Arzt kann für die Betroffenen entlastend wirken und dazu beitragen, einen Suizid zu verhindern. Studien zeigen, dass etwa die Hälfte aller Menschen, die Suizid begehen, in den vier Wochen vor ihrem Tod noch Kontakt zu ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin hatten. Oft sind diese die ersten, aber auch einzigen Ansprechpersonen. Gleichzeitig weiß man, dass Patientinnen und Patienten das Thema von sich aus selten zur Sprache bringen.
Doch die Bereitschaft, mit Patienten über einen bestehenden Suizidwunsch ins Gespräch zu kommen, stößt neben Hemmungen auch auf das strukturelle Problem begrenzter Ressourcen in der Hausarztpraxis. Reden kostet Zeit, die in unserem System nicht angemessen honoriert wird. Und: Wie genau macht man das – einen Patienten oder eine Patientin nach einem bestehenden Suizidwunsch zu fragen und das Gespräch angemessen zu führen?
Neben Fachwissen zum Thema Suizidalität und Kenntnissen in Gesprächsführung erfordert das Thema von Ärztinnen und Ärzten auch Mut. Mut, sich mit den eigenen Vorstellungen von einem würdevollen Leben und Sterben auseinanderzusetzen, Mut, eine eigene Haltung zu der Frage zu finden, ob man den Sterbewunsch eines Patienten unterstützen kann und möchte oder sich dies nicht mit den eigenen Wertvorstellungen oder dem ärztlichen Impetus des Heilenwollens vereinbaren lässt.
Zahl der Selbsttötungen seit den 1980er-Jahren rückläufig
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben sich im Jahr 2023 deutschlandweit 10.304 Menschen das Leben genommen (ICD-10 X60-X84), knapp über 200 Personen mehr als im Vorjahr. Die Suizidzahlen halten sich aber in den vergangenen zehn Jahren auf einem relativ konstanten Niveau bei rund 9.000 bis 10.000, wobei generell eine Abwärtsbewegung zu beobachten ist. Seit Beginn der 1980er-Jahre hat sich die Anzahl der Suizide nahezu halbiert. Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld.
Allerdings gibt es deutliche Unterschiede in der Geschlechter- und Altersverteilung. Bei Männern liegt die Suizidrate dreimal höher als bei Frauen. Mit voranschreitendem Alter steigen die Suizidraten deutlich an. Liegen sie bis zum Alter von 50 Jahren unter dem Bundesdurchschnitt, steigen sie bis zum 70. Lebensjahr auf rund 16 je 100.000 Einwohner, um dann in der Altersgruppe der über 85-Jährigen auf über 38 je 100.000 anzusteigen. Der Bundesdurchschnitt liegt bei rund zwölf Suiziden pro 100.000 Einwohner.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM) hat nun eine S1-Leitlinie zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in hausärztlichen Praxen vorgelegt. Ihr Ziel ist es, den in der hausärztlichen Versorgung tätigen Ärzten ethische und rechtliche Rahmenbedingungen der ärztlichen Suizidassistenz zu vermitteln und Struktur und Inhalte einer angemessenen Kommunikation sowie Hinweise und Empfehlungen zur Begleitung Sterbewilliger nahezubringen.
Die Autoren der Handlungsempfehlung gehen davon aus, dass künftig mehr Patientinnen und Patienten mit dem impliziten oder expliziten Wunsch nach Suizidassistenz ihre Hausärztinnen und Hausärzte konsultieren werden. „Studien zur Suizidassistenz zeigen, dass es sich hierbei auch um Patienten aus dem klassischen hausärztlichen Setting handelt, deren Wunsch nach Selbsttötung beispielsweise aus der Angst vor Autonomieverlust resultiert“, heißt es in der Handlungsempfehlung.
Ethische Aspekte in den Blick nehmen
Wer als Hausarzt oder Hausärztin mit einem Patienten über dessen möglicherweise bestehenden Sterbewunsch spricht, tut gut daran, zuvor seine eigene Einstellung zu diesem Thema zu reflektieren, um Patienten unbeeinflusst hiervon beraten zu können. Ärzte stehen hier in der Regel einem Spannungsfeld zwischen ihrem ärztlichen Rollenverständnis, Leben erhalten zu wollen, und dem Wunsch des Patienten nach einem selbstbestimmten Sterben (siehe Kasten).
Medizinethische Überlegungen zum assistierten Suizid
Nach den vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress („Principles of Biomedical Ethics“, 1979), die auch in der S1-Leitlinie zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in hausärztlichen Praxen vorgestellt werden, werden bei ethischen Konflikten folgende Prinzipien gegeneinander abgewogen:
Respekt vor der Autonomie des Patienten: Dieses Prinzip fordert zum einen die Freiheit von Zwang oder manipulativer Einflussnahme gegenüber dem Patienten (negative Freiheit), zum anderen aber auch, dass der Arzt die Entscheidungsfreiheit (positive Freiheit) des Patienten fördert, indem er ihn aufklärt. Das Prinzip findet seinen Ausdruck in der informierten Einwilligung (informed consent).
Prinzip des Nichtschadens: Dieses Prinzip „primum non nocere“ stellt den Kern des hippokratischen Eides dar. Es beinhaltet das Verbot, dem Patienten Schaden zuzufügen.
Prinzip der ärztlichen Fürsorge und des Wohltuns: Es beinhaltet das Gebot, Schaden beim Patienten zu verhindern und zu beseitigen und darüber hinaus sein Wohl aktiv zu fördern.
Prinzip der Gerechtigkeit: Es fordert die Orientierung an der Gerechtigkeit bei medizinischen Entscheidungen. Bei ärztlich assistiertem Suizid stehen sich insbesondere die Prinzipien des Nichtschadens und Wohltuns sowie des Respekts vor der Patientenautonomie gegenüber.
Gerade Hausärzte haben oft langjährige und sehr persönliche Beziehungen zu ihren Patientinnen und Patienten und deren Familien. Einen Patienten bei einem Suizidwunsch zu begleiten, könne daher sowohl entlastende als auch belastende Aspekte beinhalten, heißt es in der Leitlinie. Hier sei die Trennung von persönlichen Einstellungen und professionellem Handeln wichtig. Jeder Arzt habe sowohl in seiner Funktion als Arzt als auch als Privatperson eine Haltung zu Leben und Tod sowie zum (ärztlich assistierten) Suizid. Diese Haltung dürfe mit Blick auf das Autonomieprinzip jedoch nicht handlungsleitend sein. Dies stünde einer ergebnisoffenen Beratung des Sterbewilligen entgegen. Selbstreflexion und eine permanente Überprüfung der eigenen Einstellungen seien daher für eine ergebnisoffene Beratung essenziell.
Eine angemessene Kommunikation ist wichtig
Die Leitlinie enthält wichtige Empfehlungen zur Kommunikation mit Patientinnen und Patienten. An folgende fünf Empfehlungen können sich Ärztinnen und Ärzte halten:
1. Die Gespräche mit Sterbewilligen sollten ergebnisoffen sein.
2. Ärztinnen und Ärzte sollten Äußerungen zur Nachvollziehbarkeit, Wertung oder Beurteilung des Wunsches nach Suizidassistenz vermeiden.
3. Ist der Arzt/die Ärztin grundsätzlich nicht zu einer Suizidassistenz bereit, sollte er/sie dies frühzeitig nach der Graduierung der Suizidalität kommunizieren. Damit muss die Arzt-Patienten-Beziehung nicht automatisch enden, der Hausarzt kann trotzdem erste Ansprechperson sein. Er sollte alternative Hilfsmöglichkeiten eröffnen. Dies können Kollegen sein, die zur Suizidassistenz bereit sind oder der Hinweis auf Suizidhilfevereine (Dignitas Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, Verein für Sterbehilfe). Der Hausarzt sollte die Bereitschaft zu weiteren Gesprächen signalisieren und aufrechterhalten.
4. Arzt oder Ärztin sollten frühzeitig mit den Patienten besprechen, ob Angehörige einbezogen werden sollen.
5. Es bedarf einer offenen und wertschätzenden Gesprächsatmosphäre. Der Arzt oder die Ärztin sollte mehrere Folgetermine vereinbaren und dabei auf einen angemessenen Zeitrahmen achten.
Hier ist Offenheit ein wichtiger Aspekt: Offenheit für das Gespräch, das Stellen offener Fragen, Offenheit für andere Ansichten als die eigene sowie Ergebnisoffenheit.
Das sagt die Statistik
10.304 Menschen haben sich 2023 in Deutschland das Leben genommen. 1980 waren es noch 18.451.
12,2 Suizide kamen 2023 in Deutschland auf 100.000 Einwohner.
Männer: 17,9 Selbsttötungen je 100.000 Einwohner
Frauen: 6,6 Selbsttötungen je 100.000 Einwohner
Quelle:Statistisches Bundesamt 2024
Nicht jeder geäußerte Sterbewunsch ist ausreichend gefestigt
Mit Patientinnen und Patienten über einen Sterbewunsch zu sprechen, obwohl man doch heilen will, kann für Ärztinnen und Ärzte herausfordernd sein. Wie Sie einen Sterbewunsch graduieren, gegebenenfalls intervenieren, aber auch die Motive des Patienten ergründen und sich im rechtlichen Rahmen bewegen.
Nicht immer ist der Wunsch eines Patienten oder einer Patientin, nicht mehr leben zu wollen, oder die Bitte um Beihilfe zum Sterben mit einem Handlungsauftrag an den Arzt oder die Ärztin gleichzusetzen. Oft sind es die Angst vor Schmerzen oder eine psychische Erkrankung, die zu solchen Äußerungen führt. Dann muss und kann der Arzt behandeln.
Bei Patienten, die den Wunsch nach einer Suizidassistenz äußern, und Patienten, die indirekt Hinweise auf einen Sterbewunsch geben, muss der behandelnde Arzt laut der S1-Leitlinie zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in hausärztlichen Praxen in einem ersten Schritt die Suizidalität graduieren, um die akute Gefährdungslage einzuschätzen und eventuelle Akutmaßnahmen (Einweisung) einzuleiten. Dabei sollte der Arzt auch Risikofaktoren und schützende Faktoren erfassen. Als Risikofaktoren gelten beispielsweise vorbestehende psychische oder Abhängigkeitserkrankungen, akute Lebenskrisen, Isolation, chronische Schmerzen oder vorbestehende Suizidgedanken. Religiosität, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit oder ein hoher Selbstwert können dagegen schützend wirken.
Ein solches Gespräch sollte in geschützter und vertrauensvoller Atmosphäre und ohne Zeitdruck erfolgen. Dabei muss laut Leitlinie zunächst überprüft werden, ob der Sterbewunsch durch einen Medikamenten- oder Substanzgebrauch, eine akute psychische oder eine andere behandelbare Erkrankung bedingt ist. Sodann wird die Suizidalität anhand der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) graduiert:
Stufe 1: Lebensüberdruss, Wunsch nach Ruhe oder Pause („passiver Todeswunsch“)
Stufe 2: Suizidgedanken ohne konkrete Planungen
Stufe 3: konkrete Suizidpläne oder-vorbereitungen (Abschiedsbrief, Methodenerwerb, Probehandlungen)
Stufe 4: suizidale Handlungen
Um mit dem Patienten über die Dringlichkeit eines Suizidwunsches ins Gespräch zu kommen, empfiehlt die Leitlinie etwa folgenden Satz: „Danke, dass Sie mit mir über Ihren Sterbewunsch gesprochen haben. Manche Patienten, die mir von solchen Wünschen oder Überlegungen berichtet haben, hatten bereits Pläne oder haben erste Vorbereitungen getroffen. Manche haben es sogar versucht und sind im letzten Moment zurückgeschreckt. Wie ist es bei Ihnen?“ Gespräche über den Wunsch nach einer Suizidbegleitung sollten wiederholt werden, um die Dauerhaftigkeit und Festigkeit des Wunsches zu eruieren.
Welche Motive liegen dem Sterbewunsch zugrunde?
Zum Gespräch über den Wunsch eines Patienten nach Sterbebegleitung in der Hausarztpraxis gehört auch die Ergründung der zugrunde liegenden Motive. Die drei Empfehlungen der Leitlinie lauten:
Im Gespräch sollen die Motive und Intentionen hinter der Bitte nach einer Suizidassistenz erfragt und dokumentiert werden.
Bei somatischen oder psychischen Ursachen für den Sterbewunsch soll ermittelt werden, ob es kurative oder palliative Behandlungsoptionen gibt.
Hinter der Anfrage nach Suizidassistenz können andere Bedürfnisse als die tatsächliche Unterstützung beim Suizid verborgen sein. Die Bitte um Suizidassistenz ist nicht mit einem Handlungsauftrag gleichzusetzen.
In manchen Fällen ergibt sich aus der Anfrage nach Suizidassistenz ein Behandlungsauftrag für den Arzt. Daher ist es wichtig, über die Motive des Patienten zu sprechen. Diese können in körperlichen Beschwerden wie Schmerzen oder Luftnot liegen wie auch in psychischen Beschwerden (Angst, Unruhe). Auch soziale Faktoren wie Einsamkeit und existenzielle oder spirituelle Faktoren wie das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens können eine Rolle spielen. Hier zeigen Untersuchungen, dass bei Symptomkontrolle und Therapie einige Patienten Abstand von dem geäußerten Sterbewunsch nehmen. Manchmal erfüllt das Gespräch über eine Suizidassistenz aber auch eine andere Funktion: Manche Patienten möchten mit ausreichend Zeit über das Sterben und ihre Ängste sprechen können. Die Motive im Gespräch mit dem Patienten zu reflektieren, ist wichtig. Bei Vorliegen einer akuten Krise empfiehlt die Leitlinie die BELLA-Intervention (siehe Kasten).
Bei akuten Lebenskrisen intervenieren
Das sogenannte BELLA-System hat sich in der Krisenintervention bewährt.
Es bedeutet:
Beziehung aufbauen, in ein vertrauensvolles Gespräch kommen.
Erfassender Situation.
Linderung der schweren Symptome, zum Beispiel durch medikamentöse Unterstützung.
Leute einbeziehen,die unterstützen können.
Ansätze zur Problembewältigung finden.
Zur Umsetzung eines Sterbewunsches gibt es laut Leitlinie medikamentöse sowie nicht medikamentöse Optionen. Die medikamentöse Option Pentobarbital steht in Deutschland nicht zur Verfügung. Wichtig ist aus rechtlicher Sicht generell, dass der Patient sich das Medikament selbst zuführt. Beispielhaft wird hier das Narkotikum Thiopental genannt. Nicht medikamentöse Optionen sind beispielsweise ein Behandlungsabbruch oder das Sterbefasten.
Schließlich spielt auch die Nachbereitung eines assistierten Suizids eine wichtige Rolle. Der assistierte Suizid kann sowohl für Ärztinnen und Ärzte als auch das Praxispersonal sehr belastend sein, vor allem dann, wenn schon langjährige Beziehungen zu dem Patienten und den Angehörigen bestanden. Zur Nachbereitung bieten sich etwa Teambesprechungen, Qualitätszirkel, eine ambulante Ethikberatung, Angebote von Hospizdiensten oder Trauerbegleitern an. Auch die Angehörigen bedürfen unter Umständen einer nachträglichen Begleitung. Die Leitlinie empfiehlt, dass Angehörige bereits im Vorfeld Informationen über das Prozedere und die anschließende Todesfeststellung erhalten sollten. Sie sollten auf jeden Fall im Vorfeld wissen, dass ein assistierter Suizid einen nicht natürlichen Todesfall darstellt und nach Todesfeststellung die Polizei gerufen wird und es zu einem Todesermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft kommen kann.
Den rechtlichen Rahmen nicht überschreiten
Für Ärztinnen und Ärzte, die mit einem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert werden, ist es besonders wichtig, den rechtlichen Rahmen zu kennen, um sich nicht strafbar zu machen. Von der Suizidhilfe oder Suizidassistenz (auch Suizidbeihilfe) muss man die indirekte Sterbehilfe, den Behandlungsabbruch sowie die Tötung auf Verlangen abgrenzen. Unter indirekter Sterbehilfe versteht man eine symptomlindernde Medikation, die dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und bei der der Tod eine unvermeidbare Nebenfolge ist. Sie ist nicht strafbar. Als Behandlungsabbruch gilt laut Leitlinie „jede aktive oder passive Begrenzung oder Beendigung einer lebenserhaltenden oder lebensverlängernden medizinischen Maßnahme im Einklang mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen. Sie führt dazu, einem ohne Behandlung zum Tod führenden Prozess seinen Lauf zu lassen. Ein Behandlungsabbruch ist auch eine Therapiezieländerung, bzw. Therapiebegrenzung weg vom kurativen Ansatz hin zur palliativen Versorgung“. Auch er ist nicht strafbar.
Bei der Tötung auf Verlangen wird der Tod auf Wunsch oder nach dem mutmaßlichen Willen einer Person durch Handeln einer anderen Person herbeigeführt. Demnach ist die Verabreichung einer tödlichen Substanz durch eine andere Person als den Sterbewilligen selbst eine Tötung auf Verlangen und als Fremdtötung strafbar.
Suizidassistenz ist nicht strafbar
Die Suizidassistenz bezeichnet dagegen die Ermöglichung und die Nichtverhinderung eines freiverantwortlichen Suizids. Sie ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2020 für Ärztinnen und Ärzte straffrei. Dafür muss der Sterbewillige ein tödliches Mittel aber selbst einnehmen oder sich selbst zuführen, dies ist ein wichtiges Kriterium.
Die Suizidassistenz hat eine wechselvolle Geschichte. Lange verboten die Berufsordnungen für Ärztinnen und Ärzte die Suizidassistenz. Erst nach einem Beschluss des Landesärztetags 2021 wurde das Verbot in den Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern aufgehoben. Eine gesetzliche Regelung der Suizidassistenz, die Ärztinnen und Ärzten Rechtssicherheit verschaffen würde, existiert bislang in Deutschland nicht.
Ob ein Suizidwunsch freiverantwortlich ist und eine Hilfe damit straffrei, ist eine zentrale Frage, die Ärztinnen und Ärzte sorgfältig abklären müssen. Ein Suizidwunsch wird nach der Rechtsprechung beispielsweise dann nicht als freiverantwortlich eingestuft, wenn der Patient oder die Patientin an einer akuten psychischen Erkrankung leidet, die die Entscheidung, sterben zu wollen, krankheitsbedingt beeinflussen könnte. Ärzte könnten bei einer Hilfe zum Suizid in diesem Fall wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft angeklagt und verurteilt werden. Das ist in einigen Fällen auch tatsächlich schon passiert.
Freiverantwortlichkeit bedeutet nach der Rechtsprechung:
die Fähigkeit zur freien und unbeeinflussten Willensbildung
die Kenntnis aller entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte
der Ausschluss unzulässiger Einflussnahme oder Druckausübung, dies würde die Willensfreiheit ausschließen
die Dauerhaftigkeit und innere Freiheit des Entschlusses zu sterben
der Ausschluss psychischer Erkrankungenals Grund für den Sterbewunschund vorübergehender Lebenskrisen
eine umfassende Aufklärung über relevante Umstände und über alternative Handlungsoptionen
Der Wunsch des Sterbewilligen sollte also dauerhaft, innerlich fest sowie frei von äußerem Druck sein. Eine genaue Definition, was unter „dauerhaft“ zu verstehen ist, gibt es jedoch nicht. Ärzte sollten in jedem Fall mehrere Gespräche mit dem Patienten oder der Patientin führen, um die Freiverantwortlichkeit zu ergründen, und dies gut dokumentieren. Lässt sich die Freiverantwortlichkeit nicht zweifelsfrei feststellen, sollten Ärztinnen und Ärzte einen Psychiater hinzuziehen.
Motive für einen Sterbewunsch
In einer Auswertung von 118 Fallbeschreibungen assistierter Suizide wurden verschiedene Motive für den Sterbewunsch herausgearbeitet:
29,1 Prozent nannten fehlende Lebensperspektive bei schwerer Erkrankung.
23,9 Prozent nannten Angst vor Pflegebedürftigkeit.
20,5 Prozent nannten Lebensmüdigkeit ohne Vorliegen einer schweren Erkrankung.
Darüber hinaus wurden aus Sicht des Sterbewilligen nicht behandelbare Symptome imRahmen einer psychiatrischen Erkrankung sowie unerträgliche körperliche Symptomeim Rahmen einer schweren Erkrankung genannt.
Quelle:S1-Leitlinie zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in hausärztlichen Praxen, 2024
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https://cme.medlearning.de/aw/suizidwunsch/index.htm
Ina Reinsch
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