Ärztlich assistierter Suizid: Dürfen Ärzte den Sterbewunsch psychisch kranker Patienten unterstützen?
Ina ReinschZwei aktuelle Gerichtsprozesse befassen sich mit der Frage, ob Ärztinnen und Ärzte sich strafbar machen, wenn sie psychisch kranke Menschen bei deren Suizidwunsch unterstützen. Die Ärzte haben es in den beiden Fällen getan. Doch die Rechtsprechung ist restriktiv. Gesetzliche Vorgaben fehlen.
Immer wieder werden Hausärztinnen und Hausärzte in ihrem Praxisalltag mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2020 ist dies nicht mehr per se strafbar. Voraussetzung ist aber, dass der Patient aus freien Stücken aus dem Leben scheiden will – das bedeutet auch: unbeeinflusst von einer akuten psychischen Erkrankung.
Zwei Gerichte mussten sich aktuell mit der Frage befassen, ob eine psychische Erkrankung die freie Willensbildung ausschließt und Ärztinnen und Ärzte sich strafbar machen, wenn sie Patienten mit einem psychischen Leiden beim Suizid helfen.
Fall 1: Arzt legt Infusion bei depressiver Studentin
Eine 37-jährige Studentin der Tiermedizin litt seit 16 Jahren an Depressionen. Sie suchte 2021 einen Berliner Hausarzt auf und erklärt, dass sie sterben wolle. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Suizidversuche hinter sich und einen vierten geplant. Der Arzt führte ein längeres Gespräch und erwog auch, einen psychiatrischen Gutachter hinzuzuziehen. Die 1.000 Euro dafür hatte die junge Frau jedoch nicht. An der Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Frau hatte der Arzt nach eigenen Angaben letztlich keine Zweifel. In einem Hotel stellte er ihr einen tödlichen Medikamentencocktail zur Verfügung, den sie jedoch erbrach. Der Arzt legte ihr daraufhin einige Tage später eine tödliche Infusion, die sie selbst in Gang setzte und starb.
Vom Landgericht Berlin wurde er nun wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu drei Jahren Haft verurteilt (08.04.2024, Az. 540 Ks 2/23).
Die schwierige Frage, die das Gericht klären musste: War die Frau aufgrund einer schweren depressiven Episode nicht zur freien Willensbildung in der Lage? Diese ist Voraussetzung für eine straflose Suizidbeihilfe. Eine freie Suizidentscheidung setzt laut BVerfG voraus, dass der Betroffene seinen Willen „frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung“ bilden kann.
Das Gericht sah das aufgrund der Erkrankung nicht als gegeben an. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Sogar der Richter sagte, er würde es begrüßen, wenn der Verurteilte in Revision gehen würde, damit die Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt werden können. Bereits 2018 war der Arzt angeklagt, aber vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen freigesprochen worden. Damals hatte er eine 44-jährige Arzthelferin, die an einer chronischen Reizdarmerkrankung litt, bei deren Selbsttötung unterstützt, indem er ihr Pentobarbital verschrieb.
Fall 2: 42-jähriger mit Residualsymptomatik, depressiver Störung und Sehminderung
Ein 42-jähriger Mann hatte in den vergangenen Jahren zahlreiche Psychiatrieaufenthalte hinter sich, inklusive dreier Suizidversuche, als er einen Neurologen und Psychiater kontaktierte. Der Arzt erstellte ein psychiatrisches Gutachten. Es kam zu dem Ergebnis, dass der Sterbewillige unter einer Residualsymptomatik nach mehrfachen paranoid-schizophrenen Erkrankungen, einer depressiven Störung sowie einer Sehminderung leide, ohne Aussicht auf Verbesserung. Der Arzt war dennoch der Meinung, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit seines Patienten erhalten war. Der Arzt legte dem Mann 2020 im Beisein von dessen Mutter eine Infusion mit Natrium-Thiophental, die der Suizidwillige selbst in Gang setzte und starb.
Das Landgericht Essen verurteilte den 81-jährigen Arzt zu drei Jahren Haft wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft (02.02.2024, Az. 32 Ks 5/23). Das Gericht kam zu dem Schluss, dass der Sterbewillige an einer akuten paranoiden Schizophrenie sowie einer mittelgradigen depressiven Episode gelitten habe. Diese hätten seine Einsichtsfähigkeit zum Tatzeitpunkt derart gestört, dass er zu einer realitätsbezogenen Abwägung des Für und Wider der Suizidentscheidung nicht mehr in der Lage gewesen sei.
Daher habe der Suizidwunsch nicht auf einer freien Willensentscheidung beruht, sondern auf einer erkrankungsbedingt nicht realistisch begründeten Annahme, dass es für seine psychische Symptomatik keine Besserungsaussichten gebe. Der Arzt hat angekündigt, in Revision zu gehen.
Freie Willensbildung bei psychischen Erkrankungen
Die Grenze zu strafbarem Verhalten ist für Ärzte dort erreicht, wo die Entscheidung zum Suizid durch den Sterbewilligen nicht freiverantwortlich gebildet werden kann. Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen wegen des extrem hohen Rechtsgutes des Lebens vor irreversiblen Fehlentscheidungen bewahrt werden.
Ärzte müssen also positiv feststellen, dass die Suizidentscheidung eines Patienten mit hinreichender Sicherheit freiverantwortlich getroffen wurde und dass keine Gründe für ernsthafte Zweifel an der Freiverantwortlichkeit vorliegen. Bei psychischen Erkrankungen erscheint das derzeit kaum rechtssicher möglich zu sein. Hier kommt negativ zum Tragen, dass es nach der Entscheidung des BVerfG 2020, die das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung kippte, in Deutschland keine gesetzliche geregelte Suizidhilfe und damit keine klare Linie gibt. Der genaue Maßstab, wann ein psychisch Kranker noch einen freien Willen hat, muss nun von der Rechtsprechung entwickelt werden. Gänzlich ausgeschlossen ist der freie Wille auch bei psychisch Kranken jedenfalls nicht. Das sorgt für erhebliche Rechtsunsicherheit bei Ärztinnen und Ärzten. Nach den beiden Urteilen dürfte kaum noch ein Arzt bereit sein, in solchen Fällen Hilfe zur Selbsttötung zu leisten.
82 Prozent der Ärzte befürworten Suizidhilfe
Ärzte sind bei ihrer Arbeit immer wieder mit dem Wunsch von Patienten konfrontiert, aus dem Leben scheiden zu wollen. Rund 82 Prozent der Ärztinnen und Ärzte befürworten nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin aus dem Jahr 2023 den ärztlich assistierten Suizid, knapp 16 Prozent sogar bei gesunden Menschen. Besonders nach erfolgloser Palliativversorgung wären viele bereit, beim Suizid zu unterstützen. Auch bei chronisch erkrankten Patienten wäre ein Großteil der befragten Ärzte zum ärztlich assistierten Suizid bereit. Selbst bei psychiatrischen Erkrankungen würden sie in Ausnahmefällen unterstützen (s. Grafik).
Sterbewillige Patienten sind auf deren Hilfe angewiesen. Doch das Mittel Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung erhalten sie nicht, wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat. In seiner Urteilsbegründung verwies das Gericht auf Alternativen, zum Beispiel Sterbehilfevereine und einen Mix anderer Medikamente (07.11.2023, Az. 3 C 8.22 und 3 C 9.22). Das Gericht hat aber erstmals höchstrichterlich klargestellt, dass eine ärztliche Verschreibung oder Überlassung von Arzneimitteln zum Zweck der Selbsttötung arzneimittelrechtlich zulässig ist. „Eine Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation und empfohlenen Dosierung (off-label use) wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten.“
Wann ist ein Suizidwunsch freiverantwortlich?
Als notwendige Voraussetzungen für eine freie Suizidentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung 2020 vier Voraussetzungen genannt:
die Fähigkeit, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung zu bilden und nach dieser Einsicht zu handeln,
die tatsächliche Informiertheit über alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte,
die Freiheit von unzulässiger Einflussnahme oder Druck,
die Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit des Entschlusses.