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Onkologie

Bei einem nennenswerten Anteil bisher unklarer Genvarianten lässt sich jetzt die medizinische Relevanz für das Darmkrebsrisiko neu bewerten. Die Grundlage hierfür legte ein internationales Forscherteam, das genspezifische Klassifikationskriterien erarbeitet hat. Federführend bei der Forschung war das Nationale Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn.

Die Forschung ist klinisch besonders relevant, weil durch die zunehmend umfangreicheren genetischen Untersuchungen bei erblichen Tumorerkrankungen neben genetischen Varianten mit nachgewiesener Verbindung zum Krebsrisiko auch immer mehr seltene genetische Varianten gefunden werden, deren Bedeutung für die Tumorentstehung unklar ist. Man spricht hier von Varianten unklarer Signifikanz (VUS). Bei manchen Genen sind über 50 Prozent der in öffentlichen internationalen Datenbanken (insbesondere ClinVar) gelisteten Varianten solche von unklarer Signifikanz, also VUS, das stellte das Forscherteam fest. „Diese Varianten können nicht zur Diagnosestellung und auch nicht zur Testung gesunder Risikopersonen verwendet werden; andererseits erzeugen sie aber oft große Unsicherheit, da Träger einer VUS möglicherweise ein erhöhtes Tumorrisiko tragen“, erklärt Erstautorin Dr. Isabel Spier vom Institut für Humangenetik.

Die Forschergruppe um den Bonner Humangenetiker Prof. Stefan Aretz entwickelte und validierte spezifische Klassifikationskriterien zur Beurteilung von Varianten im Adenomatöse-Polyposis-coli(APC)-Gen. Erbliche genetische Veränderungen dieses Tumorsuppressor-Gens sind ursächlich für die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP), die ihrerseits eine der häufigsten Ursachen für den erblichen Darmkrebs und erbliche Polypen-Erkrankungen des Magendarmtrakts ist.

 

56 Prozent der VUS reklassifiziert

Die Expertengruppe nutzte die Leitlinie des American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG) und der Association for Molecular Pathology (AMP) zur Variantenklassifikation als Grundlage. Hiervon leiteten sie mithilfe von Datenbankanalysen und Literaturreviews spezifische Modifikationen für das APC-Gen ab. Die neu definierten Kriterien validierten sie an einem ausgewogenen Spektrum von 58 ACP-Varianten aus der ClinVar-Datenbank mit bereits bekannter gutartiger oder pathogener Wirkung. Die Klassifizierung anhand der neuen Kriterien erwies sich als weitestgehend konsistent. Von den 25 Varianten, denen in ClinVar bisher eine unklare Signifikanz zugeschrieben worden war, konnten mit den APC-spezifischen Kriterien 14 reklassifiziert werden, entsprechend 56 Prozent. Jeweils fünf Varianten wurden als benigne beziehungsweise wahrscheinlich benigne eingeordnet, vier Varianten als wahrscheinlich pathogen.

Die entwickelten Gen-spezifischen Klassifikationskriterien erlauben es zukünftig, einen deutlichen Anteil von VUS des APC-Gens in eine medizinisch relevante Kategorie zu reklassifizieren“, erläutert Spier. „Wir gehen davon aus, dass ein großer Teil der VUS als harmlose, seltene Normvarianten bewertet wird. Hierdurch können dann weltweit alle Träger dieser Varianten entlastet werden."

Im Anschluss an die aktuelle Arbeit planen die Bonner Wissenschaftler eine umfangreiche Reklassifizierungsstudie, um möglichst alle bisher bekannten VUS im APC-Gen bezüglich ihrer Relevanz neu zu bewerten. Die Arbeiten sollen auch als Modellprojekte für ähnliche Ansätze bei anderen Krebsgenen dienen.

Was ist ClinVar?

ClinVar ist ein frei zugängliches Archiv des US-amerikanischen National Center for Biotechnology Information, Teil der National Institutes of Health (NIH). Die Datenbank sammelt Berichte und Interpretationen, die von Forschenden eingereicht werden und sich mit der klinischen oder funktionellen Signifikanz von humanen Genvarianten für bestimmte Krankheiten beschäftigen.

Quelle:

Spier I et al. Genetics in Medicine 2024;doi:10.1016/j.gim.2023.100992