Öffnungsklausel: Ärzte können Risiko-Patienten bei Corona-Impfung vorziehen
A&W RedaktionBundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich gemeinsam mit dem Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Professor Dr. Lothar Wieler, dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts, Professor Dr. Klaus Cichutek, und dem Stiko-Präsidenten Professor Dr. Thomas Mertens, den Fragen zur aktuellen Impfstrategie zur Corona-Impfung gestellt. Die für den Praxisalltag relevanten Aussagen lieferte vor allem Professor Dr. Thomas Mertens.
Warum es nicht weniger als zwei Impfungen pro Patient sein dürfen
Nur mit einer Impfung zu arbeiten, um so schneller auf eine hohe Zahl von Geimpften zu kommen, ist keine gute Idee. Laut Professor Dr. Thomas Mertens weiß man zwar sicher, dass bereits die erste Corona-Impfung schützt. Allerdings weiß man nicht, wie lange. Das sei ein sehr kritischer Punkt, weil somit nicht klar sei, wann mit Durchbruchserkrankungen gerechnet werden muss.
Dazu kämen virologische und immunologische Bedenken: “Wir wissen nicht genau, was passiert, wenn viele Menschen nur noch einen schwache Immunität gegen das Virus haben. Ob das nicht zum Beispiel dazu führt, dass wir vermehrt Mutationen herauszüchten, die letztendlich auch gegen die Impfung immun werden.” Fazit: “Wir brauchen zwei Impfungen. Daran besteht kein Zweifel. Der Vorschlag, nur mit einer Impfung weiterarbeiten zu können, ist nicht zulässig”.
Mertens, aber auch Cichutek und Wieler mahnten im Laufe der Sendung zudem mehrmals, die vorgegebenen Zeitintervalle (Mindestabstand 21 bzw. 28 Tage) für die bisher verfügbaren Vakzine unbedingt einzuhalten. Auch das Überschreiten des Maximalabstands von 42 Tagen halte man derzeit aus immunologischen Gründen für nicht verantwortbar.
Können die verschiedenen Impfstoffe miteinander kombiniert werden?
“Das darf im Augenblick auf keinen Fall gemacht werden”, so die klare Aussage von Prof. Mertens. Für Kombinationen der Vakzine von BioNTech/Pfizer und Moderna, akso für die Überlegung, dass Erst- und Zweitimpfung mit dem jeweils anderen Präparat erfolgen, gäbe es bisher weltweit überhaupt keine Daten. Wie Professor Dr. Klaus Cichutek ergänzte, seien zumindest in Großbritannien Studien angedacht, die planen, unterschiedliche Impfstoffe zu mixen. Das Thema sei aber nicht trivial: “Nicht jede Kombination führt zum gewünschten Erfolg”. Tatsächlich basieren die aktuellen Impfstoffe zwar auf derselben mRNA-Technologie, unterscheiden sich aber dennoch, so dass die Auswirkungen einer Vermischung erst noch untersucht werden müssen. Deshalb müsste aktuell unbedingt gesichert werden, dass Patienten beide Dosen vom gleichen Impfstoff bekämen.
Können Patienten den Impfstoff selbst auswählen?
Diese Frage beantwortete Gesundheitsminister Jens Spahn mit einem klaren Nein. Das sei zwar durchaus diskutiert worden, doch zumindest solange die Impfstoffe noch so knapp seinen und damit auf absehbare Zeit, werde es keine Wahlmöglichkeit für Patienten geben. Man könne nur wählen, ob man sich mit dem jeweils angebotenen Impfstoff impfen lassen möchte oder nicht.
Warum Ärzte und Praxis-Mitarbeiter nicht oberste Priorität bei der Corona-Impfung haben
Wie Professor Dr. Thomas Mertens betonte, sei die Priorisierung ausschließlich “auf der Basis aller wissenschaftlichen Daten” erfolgt. Man habe aber auch den ethischen Anforderungen gerecht werden und den Impfstoff möglichst effektiv einsetzen wollen. Es gehe um Infektionsrisiken und das Risiko für tödliche Verläufe. “Es ist ganz klar, dass wir zuerst die Impfen müssen, die ein hohes Risiko für schwere Verläufe oder Tod haben”. Hier seinen die ethischen Überlegungen erfreulicherweise auch deckungsgleich mit den mathematischen Berechnungen: “Wir müssen die Schwächsten zuerst impfen”. Und natürlich auch die, die ein besonders hohes Risiko haben, das Virus weiterzugeben. Das sind zusammengefasst über 80jährige, Menschen in Pflegeheimen, Pflegekräfte und Personal mit besonders hohem Risiko (Intensivstationen, Notaufnahmen, Rettungsdienste) – insgesamt mehr als 8 Millionen Menschen. Wenn das erreicht sei, habe man auch eine Chance, die hohen stationären Zahlen zu senken.
Hausärzte und Praxen seien trotzdem hoch priorisiert – in der Gruppe 2. “Die Gruppe 1 beliebig größer zu machen, macht keinen Sinn”, so Mertens. Wie Gesundheitsminster Spahn ergänzte, dürfe man auch nicht vergessen, dass Ärzte und ihre Mitarbeiter Vollprofis seien. Sie wüssten im Gegensatz zu dementen Patienten im Heim, wie man sich schützt. Man habe eine Riesenwertschätzung für die Arbeit der Kollegen, könne die Priorisierung des Impfstoffes aber nicht zum Maßstab von Wertschätzung machen. Ärzte hatten zuvor kritisiert, nicht in der ersten Gruppe der priorisierten Personen für die Corona-Impfung zu sein.
Wichtig für Ärzte: Die neue Öffnungsklausel
Sobald genügend Impfdosen zur Verfügen stehen, soll nicht nur in den Impfzentren, sondern auch in Praxen geimpft werden. Die Impfzentren der Länder sollen dann möglichst bald obsolet werden. Dann wird vermutlich auch die Öffnungsklausel an Bedeutung gewinnen, die in die aktualisierte Impfempfehlung aufgenommen wurde. Mertens: “Dies Stiko weiß natürlich, dass es z.B. auch seltene Krankheiten gibt, für die es keine statistischen Grundlagen, keine Zahlen gibt.” Die Öffnungsklausel in der neuen Empfehlung erlaubt Ärzten deshalb auch Individual-Entscheidungen. Das heißt: Ärzte können Patienten mit schweren Vorerkrankungen und hohem Risiko eigenmächtig in eine höhere Priorisierungs-Gruppe einstufen.