Behandlungsfehler: Wissenslücken schützen Ärzte nicht vor Haftung
Marzena SickingÄrzte sind verpflichtet, sich über die aktuellen fachspezifischen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten und bestimmte Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Dies dient vor allem dem Zweck, Patienten vor Schaden zu beschützen. Wer Vorgaben und Patientenrechte nicht ernst nimmt, muss mit juristischen Folgen rechnen.
Unkenntnis schützt vor Strafe nicht: Diese alte juristische Weisheit gilt auch für die Tätigkeit des niedergelassenen Arztes. Das heißt konkret: Ärzte haften für Kunstfehler, und zwar auch dann, wenn sie es nachweislich nicht besser wussten. Bei der Frage nach der Arzthaftung kommt es nämlich vor allem darauf an, ob sie es hätten wissen müssen beziehungsweise besser wissen können.
Bei der Arzthaftung gelten besondere Regeln für Fehler
Zwar greift im deutschen Deliktsrecht zunächst der Grundsatz, dass derjenige, der einen Schaden verursacht hat, diesen nur ersetzen muss, wenn ihn auch eine rechtliche Schuld für den Fehler trifft.
Im Bereich des Arzthaftungsrechts gelten allerdings besondere Regeln: So wird bei der Ermittlung der persönlichen Schuld bei einem Behandlungsfehler ein sogenannter verobjektivierter Standard, genauer der Facharztstandard, zugrunde gelegt.
In Haftungsprozessen prüfen die Gerichte also, wie ein besonnener und gewissenhafter Arzt des jeweiligen Fachgebiets bei der Behandlung oder der Operation des Patienten agiert hätte. Ausgangsbasis ist hierbei somit immer eine idealtypische Behandlungssituation des Patienten in der Praxis oder im Krankenhaus.
Rechte des Mediziners auf individuelle Beurteilung sind eingeschränkt
Individuelle Besonderheiten des Arztes lassen die Juristen beim Vorwurf eines Kunstfehlers in den meisten Fällen hingegen unberücksichtigt. Ein besonders hoher Stresslevel zum Zeitpunkt der Behandlung, mangelnde Erfahrung oder unverschuldete Personalengpässe in der Praxis befreien den Mediziner beispielsweise nicht von einer vollumfänglichen Arzthaftung.
Ein ärztlicher Berufsanfänger muss im Grunde also demselben Sorgfaltsmaßstab genügen wie ein „alter Hase“. Wenn er aus subjektiver Sicht einen entschuldbaren Fehler begangen hat, sein Handeln aber den objektiven medizinischen Standards nicht entsprach, ist er im Zweifelsfall somit dennoch schadenersatzpflichtig gegenüber dem Patienten.
Ärztliche Fehler durch mangelnde Kenntnisse
Besonders kritisch wird es, wenn sich ein Arzt bei der Behandlung auf fremdes Terrain begibt. Verschreibt etwa ein Allgemeinmediziner einer Frau ein Verhütungsmittel, statt sie zum Gynäkologen zu schicken, muss er die volle Aufklärung und denselben Standard garantieren wie der Frauenarzt. Sonst trifft ihn ein sogenanntes Übernahmeverschulden. Das Argument der Rechtsprechung: Genügen die Kenntnisse oder Fertigkeiten des behandelnden Arztes nicht dem Facharztstandard auf dem jeweiligen Gebiet, muss er eben einen entsprechend spezialisierten Kollegen zurate ziehen.
Und das bedeutet auch: Ein Behandlungsfehler liegt selbst dann schon vor, wenn der Arzt vor der Behandlung nicht erkannt hat, dass diese die Grenzen seines Fachgebiets, seiner persönlichen Fähigkeiten oder der ihm zur Verfügung stehenden apparativen Ausstattung überschreitet. Der Patient könnte ihn verklagen.
Warum eine gewisse Beschränkung der Therapiefreiheit sinnvoll sein kann
Angesichts der Vielzahl von Auslegungsmethoden beim Facharztstandard kommt es vor Gericht regelmäßig zum Streit, ob eine bestimmte Behandlung tatsächlich dem anerkannten und gesicherten Standard der medizinischen Wissenschaft und dem Anspruch eines sorgfältig arbeitenden Spezialisten genügt oder ob ein Behandlungsfehler vorliegt.
Hilfreich, wenn auch nicht ganz unumstritten sind in solchen Konstellationen die Richt- oder Leitlinien der unterschiedlichen Gremien: Sie sollen den aktuellen medizinischen Standard abbilden, dem Arzt die Arbeit erleichtern und sein Haftungsrisiko senken.
Sklavisch an die Vorgaben halten sollten sich Ärzte aber nicht. Der Grund: Sowohl Richt- als auch Leitlinien bieten für bestimmte Behandlungssituationen Handlungs- und Entscheidungskorridore an, von denen der Arzt in begründeten Fällen abweichen darf – oder sogar muss. Das Abweichen von einer solchen Empfehlung ist folglich nicht gleichbedeutend mit einer Pflichtverletzung oder einem Behandlungsfehler. In der Regel bedarf es jedoch einer medizinischen Rechtfertigung und erhöht damit ein weiteres Mal den Verwaltungsaufwand des niedergelassenen Arztes.
Zwei Rechtsanwälte, drei Meinungen
Kommt es aufgrund eines mutmaßlichen Behandlungsfehlers zu einem Gerichtsverfahren, sind die Richter meist auf externe Unterstützung angewiesen, da sie das Vorliegen eines medizinischen Sorgfaltspflichtverstoßes nicht qua eigener Kenntnis feststellen können. In der Regel wird die Einhaltung des Facharztstandards daher mithilfe eines medizinischen Sachverständigen festgestellt. Dieser Gutachter sollte aus dem Fachgebiet des betreffenden Arztes stammen. Viele Verfahren ziehen sich über Jahre hin. Dennoch muss sich der Arzt nur an dem messen lassen, was nach dem Stand der Medizin im Zeitpunkt der Behandlung geboten war.