Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Medizinrecht

„Kann passieren – darf aber nicht passieren“: Beispiele aus der Praxis

  •  Ein auffälliger Laborwert „verschwindet“ in einer Patientenakte, ohne nochmals vom Arzt kontrolliert und vor allem auch an den Patienten weitergegeben worden zu sein. Dieser wiegt sich in Sicherheit, da er die Zusage hatte, die Praxis melde sich bei einer Auffälligkeit.
  • Ein zu hoher und ansteigender Kreatininwert wird über Jahre hinweg übersehen und ohne Reaktion in der Akte abgelegt. In der Folge führt dies zur dialysepflichtigen Niereninsuffizienz und zu einer notwendigen Transplantation. Eine frühzeitige Therapie hätte die Folgen stark gemildert. Neben dem Schmerzensgeld wurde ein Unterhaltsschaden geltend gemacht.
  • Die eindeutigen Befunde des Radiologen werden nicht weitergegeben. Es wird vergessen, den Patienten zu informieren und nochmals einzubestellen, da nicht klar ist, wem in der Praxis diese Aufgabe zukommt. Die Krebserkrankung wird erst bei der Folgebehandlung 2 Jahre später erkannt, die Therapie erfolgt zeitverzögert, die Erkrankung hat längst einen schlechteren Status erreicht.
  • Eine Kortisongabe wird langfristig ohne Zwischenkontrollen so lange durchgeführt, bis sich eine schwere Nekrose entwickelte. Das Rezept wurde (von wechselnden Ärzten innerhalb des MVZ) immer wieder verlängert, ohne den Patienten zu Kontrollen einzubestellen.
  • Ein Patient, der zur Impfung geplant war, wird aufgrund einer Erkältung nicht geimpft. Bei der Wiedervorstellung – zur Kontrolle der Erkältung – ein paar Tage später sind die Erkältungssymptome gelindert. Der Mann geht selbstständig ins Labor der Praxis und erhält – ohne Begleitzettel, ohne Computereintrag und ohne eine Rückfrage bei der behandelnden Ärztin – die Impfung. Es stellen sich schwerwiegende Reaktionen mit einem Krankenhausaufenthalt ein.
  • Im Vorbeigehen am Empfang wird ein Rezept von einem Kinderarzt unterschrieben. Statt der Dosierung „Tröpfchenform“ wird „Tablettenform“ mit einer viel zu hohen Dosierung rezeptiert. Der Kinderarzt unterzeichnete das Rezept, ohne den Fehler zu bemerken. Aufgrund der Überdosierung erlitt der Säugling einen Herzstillstand. Das Kind konnte gerettet werden, aufgrund der Sauerstoffunterversorgung erlitt es jedoch schwerste Hirnschäden, die zu einer dauerhaften körperlichen und geistigen Behinderung führten.

Kleiner Fehler – große Wirkung

Fälle, in denen sich der Patient zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Praxis auf Weisung des Arztes nochmals einfinden sollte, dies dann vom Patienten aus nicht erfolgt, finden sich bei allen Fachgebieten wieder und kommen im Praxisalltag regelmäßig vor. Nicht selten wird von Richtern entschieden, dass der Hinweis auf die Dringlichkeit der nochmaligen Vorstellung und weitergehenden Kontrolle vom Arzt hätte vehementer verfolgt werden müssen und sich dadurch eine Haftung des Arztes begründet.
Ein kleines Missverständnis in der Abstimmung oder ein fehlendes Terminsystem kann so zu prekären Situationen führen, sodass sich ein – eigentlich bereits entdeckter – Tumor weiter ausbreitet, ohne dass die notwendige Therapie erfolgt. Diese zu spät einsetzende Therapie hat bestenfalls nur eine verspätete Behandlung zur Folge, schlechtestenfalls ist die Erkrankung aber so weit fortgeschritten, dass es für eine Therapie zu spät ist.

Alter des Patienten entscheidend für die Dramatik und die Schadenhöhe

Je jünger der Patient ist, desto höher fallen bei diesen Fällen die Schadenersatzleistungen aus, vor allem, wenn zusätzlich noch unterhaltspflichtige Kinder und ein Erwerbsschaden zu berücksichtigen sind oder der Patient gar noch minderjährig ist. Gerade bei Kinderärzten ist eine übersehene chronische Erkrankung eines Kleinkindes, die durch frühzeitigen Therapiebeginn hätte verhindert werden können, mit hohen Entschädigungsleistungen verbunden. Das Gleiche gilt für Augenärzte, die bei einem Kind oder gar bei einem Säugling die falsche Diagnose stellen oder auf alarmierende Werte nicht adäquat und zeitnah reagieren.

Aus diesem Grunde ist es auch für die nicht operativen Fachgebiete wie Allgemeinmedizin, Innere Medizin und vor allem Kinderheilkunde, die vermeintlich ein geringeres Risiko darstellen, elementar, im Rahmen der Berufshaftpflicht eine Absicherung mit hohen Deckungssummen einzukaufen. Eine nicht oder zu spät erkannte chronische Erkrankung bei einem Kleinkind kann schnell sehr große Dimensionen annehmen und über die Jahre in die Millionen gehen.

Mehr Transparenz und mehr Koordination

Eine klare Praxisorganisation und eine transparente und für alle gleiche Arbeitsablaufbeschreibung sind für alle Fachgebiete unerlässlich. Gerade vor dem Hintergrund immer größer werdender Praxen mit mehr Ärzten – viele davon in Teilzeit – und mehr Praxispersonal ist es notwendig, immer den gleichen Ablauf zu gewährleisten. Was früher zwischen einem Praxisinhaber und dessen Personal als eingespieltem Team ohne klare Beschreibung quasi blind funktionierte, bedarf heute aufgrund der veränderten personellen Strukturen klarer Kommandos.

Forciert wird diese Situation durch zunehmende Praxisschließungen im hausärztlichen Bereich, was für die verbleibenden Praxen ein erhöhtes Patientenaufkommen zur Folge hat. Der demografische Wandel mit einem älter werdenden Patientenstamm und multimorbiden Menschen mit diversen Medikamenten verschiedenster Fachärzte stellt eine Herausforderung an die allgemeinmedizinischen und internistischen Praxen dar. Die Qualitätssicherung durch klare Praxisabläufe wird damit wichtiger denn je. Sonst kann in der Hektik des Praxisalltags schnell ein kleiner Fehler mit großen Auswirkungen entstehen.

Das Credo lautet: mehr Transparenz, klare Zuordnungen und Aufgabenverteilungen sowie Ablaufbeschreibungen, mehr Recalls. Ein gut organisiertes Recall-System, wie z. B. die regelmäßige Erinnerung an die Krebsvorsorge (fachgebietsunabhängig vom Dermatologen, Internisten, Gynäkologen bis zum Urologen), macht dem Patienten die Notwendigkeit der Untersuchung deutlich und vermindert Ansprüche gegen die Praxis. In der Zahnmedizin hat sich dieses System bereits flächendeckender etabliert, in der Humanmedizin besteht noch Handlungsbedarf.

Auch die Einrichtung eines festen Zeitfensters zum Rückruf von Patienten verhindert, dass der geplante Anruf untergeht.

Praxisorganisation ist zudem ein elementarer Punkt, der von Patienten subjektiv wahrgenommen und bewertet wird. Wie zuverlässig werden Absprachen eingehalten, passen die Handlungen und Aussagen des Personals und der Ärzte zueinander? Wie vernetzt sind die verschiedenen Bereiche miteinander?

Das alles trägt – neben der eigentlichen Behandlung – zur Reputation des Arztes bei und fließt mittlerweile auch über die verschiedensten Internetportale in die Bewertung einer Praxis mit ein. Oftmals finden sich dort Einträge wie „chaotische Praxisorganisation, fehlende Koordination, mangelnde Strukturen“, was wenig vertrauenswürdig ist. Die Bedeutung dieser Portale nimmt zu, die Beschreibungen befassen sich ganz häufig mit dem Wahrnehmen der Organisation und begrenzen sich nicht nur auf die Behandlung durch den Arzt.

Mehr Beschwerden soll man gut finden?

Hilfreich ist neben der klaren Festlegung von Arbeitsabläufen und Zuständigkeiten auch die Implementierung eines Beschwerdemanagements. Wie wirkt die Praxis auf die Patienten? Welche wiederkehrenden Defizite werden von Patienten genannt? Beschwerden werden häufig als lästig und emotional als ungerechtfertigt angenommen. Dabei zeigen sie oftmals auch Schwachstellen und Defizite im Praxisablauf, die manchmal mit wenigen Mitteln zu beheben sind, was folglich die Patientenzufriedenheit optimiert. Allein das Abfragen von Missständen oder Missstimmungen und das damit verbundene Interesse am Patienten führen zur Verbesserung der Dienstleistungsqualität.

Fehler und Beschwerden gehen oftmals miteinander einher. Elementar ist dabei, das Praxispersonal im Umgang mit Fehlern und Beschwerden zu schulen. Fühlt sich der Patient mit seinem Anliegen ernst genommen und empfindet das Praxispersonal die Beschwerde nicht als persönlichen Angriff, sondern als Chance, die Patientenzufriedenheit zu erhöhen, ist beiden Seiten geholfen. Inhaltlich wiederkehrende Beschwerden sollten ernst genommen, im Team besprochen und Lösungswege erarbeitet werden. Eine Fehlerbehebung führt auch zu einer Reduktion der Fehler in der Praxisorganisation.

Eine frühzeitige Deeskalation der Situation und Besprechung mit dem Patienten kann dauerhaften Streit, Unzufriedenheit und ggf. auch eine folgende Inanspruchnahme verhindern. Eine aktive Motivation der Patienten, Beschwerden zu äußern (durch Fragebogen oder auch klare Ansprechpartnerbenennung), steigert dauerhaft die Patientenzufriedenheit, da sich erfahrungsgemäß eine größere Anzahl unzufriedener Patienten ohne weiteren Kontakt von der Praxis abwendet und schlimmstenfalls negative Stimmung gegen eine Praxis verbreitet, was sich heutzutage über das Netz wesentlich weiter publiziert als nur über Mund-zu-Mund-Propaganda.

Fazit

Keiner wünscht sich unzufriedene Patienten. Eine strukturierte Praxis mit guter Organisation hilft, ein harmonisches Arzt-Patienten-Verhältnis und ein gutes Arbeitsklima zu fördern. Bei allen Arbeiten können Fehler passieren, die Minimierung von vermeidbaren Fehlern sollte jedoch vor dem Hintergrund der Auswirkungen, die bei der Behandlung von Menschen passieren können, zum Ziel des gesamten Praxisteams gehören.

Autorin:
Dipl.-Betriebswirtin (BA) Annette Dörr, HDI Vertriebs AG, Saarbrücken