Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler: Feiner Unterschied, große Wirkung
Ina ReinschHat ein Arzt Befunde nicht erhoben und kommt ein Patient zu Schaden, sind die haftungsrechtlichen Risiken viel höher, als wenn er Befunde falsch interpretiert hat und daher zu einer Fehldiagnose kommt. Wie die Gerichte Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler definieren und was Ärzte tun können, um ihre Risiken zu minimieren.
Eine Patientin suchte die Vertretung ihrer Hausärztin auf. Sie hatte Schmerzen im unteren Rücken und in der linken Gesäßhälfte. Die Ärztin diagnostizierte Ischiasbeschwerden, verabreichte eine Spritze und verordnete Novamin. Darüber hinaus ordnete sie an, die betroffene Stelle nachhaltig warm zu halten. Eine Untersuchung der Analregion führte sie nicht durch. Drei Tage später wurde bei der Patientin eine Entzündung des perirektalen und perianalen Fettgewebes unter Einbeziehung der Muskulatur festgestellt. Wegen des Verdachtes einer nekrotisierenden Faszitis musste deshalb eine Notoperation durchgeführt werden, bei der auch ein Teil des Schließmuskels entfernt wurde. Darüber hinaus wurden fünf weitere Nachbehandlungen erforderlich.
Fehler in der Befunderhebung und Diagnose sind häufig
Die Patientin verklagte die Ärztin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 Euro wegen eines Behandlungsfehlers. Auch wenn der Fall besonders gravierend verlief, zeigt er, wie schnell es gehen kann. In der hausärztlichen Versorgung treten ärztliche Fehler besonders bei Befunderhebung und Diagnose auf. In welchem der beiden Bereiche der ärztliche Fehler liegt, ist dabei immens wichtig, denn es führt wegen der unterschiedlichen Beweislast zu völlig unterschiedlichen Haftungsfolgen.
Wann liegt ein Befunderhebungsfehler vor?
Ein Befunderhebungsfehler liegt nach der Rechtsprechung dann vor, wenn der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen hat. Die Intensität der Diagnostik und die Auswahl der Mittel richten sich nach der Eilbedürftigkeit und der Schwere der Erkrankung, auf die die Symptome hindeuten. Elementare Befunde muss der Arzt immer erheben, wenn sie für die Behandlung von Relevanz sind. Verdachtsdiagnosen muss er abklären. Das bedeutet aber nicht in jedem Fall eine vollständige Abklärung sämtlicher theoretisch in Betracht kommender Erkrankungen. Bei unklarem Krankheitsbild muss der Arzt vor allem im Hinblick auf mögliche schwere Krankheiten alle Diagnosemöglichkeiten ausschöpfen. Das bedeutet mitunter wiederholte Diagnose- und Kontrolluntersuchungen bei verdächtigen Werten. Hat der Arzt in vertretbarer Weise eine Diagnose getroffen, zeigt die begonnene Therapie aber keine Wirkung, muss er die Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf überprüfen. Maßstab ist dabei immer der Facharztstandard.
Was ist ein Diagnoseirrtum?
Ein Diagnoseirrtum liegt vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde vertretbar falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen ergreift. Der Arzt hat also die notwendigen Befunde erhoben, um sich ein ausreichendes Bild vom Zustand des Patienten zu verschaffen. Er zieht aber aus den vorliegenden Befunden die falschen Schlüsse für die Diagnose. Das kommt in der Praxis gar nicht so selten vor. Die Symptome einer Erkrankung sind oft nicht eindeutig, sondern können auf verschiedene Ursachen hinweisen. Zudem können Patienten aufgrund der Unterschiede des menschlichen Körpers unterschiedliche Anzeichen für dieselbe Krankheit zeigen.
Bei Fehlern im Bereich der Diagnose gibt es aber noch weitere Stufen: Ist die Diagnose nicht oder nicht mehr vertretbar, liegt ein vorwerfbarer Diagnosefehler vor und nicht bloß ein Diagnoseirrtum. Dieser stellt einen einfachen Behandlungsfehler dar. Ein grober Diagnosefehler ist dann gegeben, wenn die Diagnose nicht nur unvertretbar, sondern schlechterdings unverständlich ist.
Warum hat der Unterschied rechtliche Konsequenzen?
Die unterschiedlichen Fehlerarten wirken sich auf die Verteilung der Beweislast in einem möglichen Arzthaftungsprozess aus. Ein Befunderhebungsfehler stellt immer einen Behandlungsfehler dar. Wenn sich bei Erhebung des Befundes mit hoher Wahrscheinlichkeit (über 50 %) ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte, dann führt bereits ein einfacher, nicht grober Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten. Der Patient muss dann im Arzthaftungsprozess nicht mehr beweisen, dass der Befunderhebungsfehler ursächlich für seinen Gesundheitsschaden war, wie das normalerweise der Fall wäre. Vielmehr muss der Arzt nachweisen, dass der Schaden auch bei korrekter Befunderhebung eingetreten wäre. Das gilt auch bei einem groben Befunderhebungsfehler. Grob ist ein Fehler dann, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt einfach nicht unterlaufen darf.
Diagnoseirrtümer, die objektiv auf einer Fehlinterpretation der Befunde beruhen, werden von der Rechtsprechung dagegen nur zurückhaltend als Behandlungsfehler gewertet. Ein Diagnoseirrtum begründet für sich allein noch keine Haftung des Arztes. Erst wenn die Fehldiagnose nicht mehr verständlich oder vertretbar erscheint, liegt ein vorwerfbarer, haftungsrelevanter Diagnosefehler vor. Ein Diagnosefehler ist als „grob“ anzusehen, wenn die Interpretation des Befunds nicht nur unvertretbar, sondern darüber hinaus unverständlich erscheint. Auch hier kommt es zu einer Umkehr der Beweislast.
Die Abgrenzung der Fehlerarten kann aber im Einzelfall kompliziert sein. Ärztinnen und Ärzte sollten folgendes wissen: Es ist wichtig, alle erforderlichen Befunde sorgfältig zu erheben. Denn sobald die aus fachärztlicher Sicht erforderlichen Befunde vollständig erhoben wurden, liegt kein Befunderhebungsfehler mehr vor. Das ist für den Arzt oder die Ärztin haftungsrechtlich von Vorteil. Ob die erhobenen Befunde vollständig sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Kommt es nun aufgrund der erhobenen und vorliegenden Befunde zu einer Fehlinterpretation, ist von einem Diagnoseirrtum auszugehen. Sofern die gestellte Diagnose fachärztlich vertretbar erscheint, ist ein solcher Irrtum haftungsrechtlich nicht vorwerfbar.
Treten neue Symptome auf, muss der Arzt seine Diagnose überprüfen
Wichtig ist außerdem: Ein Diagnosefehler wird nicht dadurch zu einem Befunderhebungsfehler, weil der Arzt, wäre die Diagnose richtig, noch weitere Befunde hätte erheben müssen. Aus einem Diagnoseirrtum kann damit nicht unmittelbar ein Befunderhebungsfehler werden. Das gilt aber nur, solange sich die Befunde nicht verändern. Treten neue Symptome auf oder verschlechtert sich der Gesundheitszustand eines Patienten und ist dies mit der irrtümlich gestellten Diagnose nicht in Einklang zu bringen, muss der Arzt neu prüfen, ob weitere Befunde erhoben werden müssen.
Im Falle der Hausärztin entschied das Oberlandesgericht Hamm damals, dass es sich um einen einfachen Befunderhebungsfehler handelte. Er rechtfertige aber eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, weil die unterlassene Befunderhebung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einem reaktionspflichtigen Befund geführt hätte und sich die Verkennung des Befundes oder das Verhalten der Ärztin auf der Basis dieses Ergebnisses als grob fehlerhaft darstellt. Bei Kreuzbeschwerden seien insbesondere auch solche Symptome abzuklären, die auf anderweitige Erkrankungen mit dringendem Handlungsbedarf hinweisen, sogenannte red flags. Dafür hätte die Ärztin eine Reihe von Ursachen ausschließen müssen, zum Beispiel Abszesse, Frakturen, Tumore, Infektionen und Radikulopathien/Neuropathien. Dazu gehöre aber auch die Inspektion der Analregion, soweit Hinweise auf eindeutiges dortiges Geschehen vorhanden waren. Die Ärztin wurde zu 20.000 Euro Schmerzensgeld und zum Ersatz sämtlicher weiterer materieller und nicht vorhersehbarer immaterieller Schäden verurteilt.
„Was nicht dokumentiert ist, wurde nicht gemacht“
Nach § 630f des Bürgerlichen Gesetzbuchs muss der Arzt die Behandlung in der Patientenakte dokumentieren. Festgehalten werden müssen sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse und Befunde. Ist die ärztliche Dokumentation lückenhaft, führt das zu Beweiserleichterungen für den Patienten. Nach der Rechtsprechung wird dann nämlich vermutet, dass eine Maßnahme, die nicht in der Patientenakte dokumentiert ist, auch nicht durchgeführt wurde. Es ist dann Sache des Arztes, diese Vermutung zu widerlegen, zum Beispiel durch Zeugen.