Chemische Umweltverschmutzung: gekommen, um zu bleiben
Ines Schulz-HankeViele Umweltchemikalien leiten sich von fossilen Brennstoffen ab und können auch in unser endokrines System eingreifen. Gerade Ärztinnen und Ärzte sollten die Expositions- und Gesundheitsrisiken kennen, um sie reduzieren oder verhindern zu können.
Wir verbrauchen heute weltweit 15-mal mehr fossile Brennstoffe als noch in den 1950er-Jahren, unter anderem für die Herstellung petrochemischer Produkte. In diesen vergangenen sieben Dekaden ist die Prävalenz zahlreicher chronischer Krankheiten und der durch sie verursachten Todesfälle global steil angestiegen. Allein zwischen 1990 und 2019 kletterten die Raten für neurologische Entwicklungsstörungen, Diabetes, chronische Atemwegserkrankungen und Krebs in den USA um 28 bis 150 Prozent nach oben, schreibt Tracey J. Woodruff in einer aktuellen Übersichtsarbeit im New England Journal of Medicine.
Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften und Regierungsbehörden, wie etwa das Umweltbundesamt oder die European Environment Agency, gehen davon aus, dass eine Exposition gegenüber solchen Umweltchemikalien einschließlich sogenannter endokriner Disruptoren ein wichtiger Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen ist und vermutlich zu den Inzidenzanstiegen beiträgt – wenn auch die zeitliche Assoziation nicht als Kausalzusammenhang gelten kann.
Die Masse an Plastik übertrifft jene aller lebenden Säugetiere
Das stellten Forschende um Bethanie Carney Almroth, Gothenburg, 2022 fest. Wie im Rahmen der Fifth World Chemicals Conference (ICCM5) 2023 in Bonn deutlich wurde, ist die weltweite Produktion von Chemikalien seit 1950 um den Faktor 50 angestiegen. Von geschätzt 350.000 chemischen Substanzen wurde bisher nur ein winziger Bruchteil auf die Risiken für Mensch und Umwelt untersucht. Viele der petrochemisch gewonnenen Produkte interferieren mit dem endokrinen System, sind also endokrine Disruptoren. Sie stecken unter anderem in Kunst- und Baustoffen, Kinderspielzeug, Textilien, Waschmitteln, Kosmetika, Arzneimitteln sowie Pestiziden und gelangen von dort in die Umwelt. Perfluoralkyle und Polyfluoralkyle (PFAS) finden sich in Lebensmittelverpackungen und Textilien, Phthalate in Kunststoffen und Konsumprodukten. Die Risiken steigen, wenn eine Exposition während der fetalen oder kindlichen Entwicklung erfolgt, wenn mehrere endokrine Disruptoren und bereits niedrige Expositionslevel im Spiel sind. Insgesamt sind sozial und/oder finanziell benachteiligte Gruppen stärker exponiert und tragen so ein höheres Gesundheitsrisiko, wie das Review zeigt.
Was zu tun ist gegen die führende Ursache vorzeitiger Todesfälle
Ärztinnen und Ärzte können in ihren Sprechzimmern dazu beraten, wie sich Expositionsrisiken reduzieren lassen, schreibt Woodruff in ihrem Review. Im Bereich Ernährung rät sie:
Weniger Fleisch und mehr Früchte, Gemüse und Vollkornprodukte verzehren, denn verschiedene Chemikalien akkumulieren in tierischem Fett.
Frisches Gemüse und Obst verzehren, wenn möglich Bioqualität. Waschen, um Pestizidexposition zu reduzieren.
Belastete Lebensmittel meiden oder reduzieren (z. B. Schwertfisch oder Blauflossenthunfisch wegen hoher Quecksilberbelastungen).
Um die Exposition gegenüber Phthalaten und PFAS gering zu halten, verpackte und hoch verarbeitete Lebensmittel meiden.
Lebensmittel in Glas-, Keramik- oder Stahlbehältern aufbewahren. Keine Plastikgefäße in der Mikrowelle nutzen.
Auch in Haushalt und Freizeit bieten sich Stellschrauben, die persönliche Risiken senken können, zeigt das Review.
Ungiftige Reinigungsprodukte nutzen, z. B. Backsoda, Essig oder Zitronen.
Böden und Oberflächen feucht wischen, um keinen chemikalienhaltigen Staub in der Luft zu verteilen.
Schuhe ausziehen vor dem Betreten der Wohnung und sie außerhalb der Wohnung aufbewahren.
Insektenschutz möglichst mit physikalischen Methoden: Insektengitter und lange Kleidung. Stehende Gewässer als Brutstätten eliminieren.
Nasse Reinigung der chemischen Trockenreinigung vorziehen.
Bei Heimwerkerartikeln und Wohnungseinrichtung auf Materialien achten, die frei von flüchtigen organischen Komponenten und Flammschutzmitteln sind.
Paraben- und Parfüm-freie Körperpflegeprodukte nutzen.
Kunstrasen: möglichst meiden, am besten nicht darauf essen und nach Kontakt duschen.
Letztlich sind diese individuellen Schritte unleugbar klein, weshalb, so Woodruff, ein Politikwechsel unabdingbar sei. Und der könne (ärztliche) Fürsprache gebrauchen.
Quelle:Woodruff TJ et al. N Engl J Med 2024;390:922–933
www.umweltbundesamt.de/en/topics/the-world-chemicals-conference-why-we-need-it