Digitaler Graben zwischen Kliniken und Praxen: Jeder fünfte Arzt setzt noch auf das Fax
A&W RedaktionVideosprechstunden, elektronische Patientenakte, Gesundheits-Apps auf Rezept: Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung hat in den vergangenen Monaten große Fortschritte gemacht. Deutschlands Ärzteschaft zeigt sich beim Einsatz digitaler Technologien allerdings gespalten: Während Ärzte in Kliniken mehrheitlich offen für digitale Gesundheitsangebote sind, zeigen sich Ärzte in Praxen skeptischer.
Eine Umfrage, die der Digitalverband Bitkom gemeinsam mit dem Ärzteverband Hartmannbund unter mehr als 500 Ärzten durchgeführt hat, offenbart einen digitalen Graben zwischen Kliniken und Praxen. Demnach sehen 86 Prozent der Klinik-Ärzte in der Digitalisierung vor allem Chancen für das Gesundheitswesen. Nur zehn Prozent der Kliniker halten die Digitalisierung für ein Risiko. Bei den Ärzten in Praxen betonen hingegen lediglich 53 Prozent die Chancen. Hier sehen 39 Prozent die Risikoperspektive.
Zugleich gibt es hier auch einen deutlichen Unterschied zwischen Ärztinnen und Ärzten. 74 Prozent der Frauen sehen die Digitalisierung als Chance, aber nur 63 Prozent der Männer. Und: Je jünger die Ärzte sind, desto aufgeschlossener und optimistischer sind sie. 88 Prozent der unter 45-Jährigen sehen die Digitalisierung als Chance. Aber nur jeder zweite Arzt (55 Prozent) ab 45 Jahren.
Mehr Tempo beim Ausbau gefordert
Vor allem Klinik-Ärzte wünschen sich, dass es bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens schneller vorangeht. 82 Prozent der Mediziner in Krankenhäusern sagen, es sei mehr Tempo beim Ausbau digitaler Angebote nötig. Unter den Praxis-Ärzten sind es lediglich 38 Prozent. 70 Prozent der Klinik-Ärzte meinen, Deutschland hänge im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems zurück. Unter den Praxis-Ärzten sehen das mit 53 Prozent deutlich weniger so.
Neue Technologien im Kampf gegen Corona
Und fast zwei Drittel (63 Prozent) der Mediziner in Krankenhäusern plädieren dafür, dass Deutschland im Kampf gegen die Corona-Pandemie stärker auf digitale Technologien setzen muss. Die Praxis-Ärzte sehen das nur zu 39 Prozent so. Insgesamt ziehen die Ärzte rund ein Jahr nach dem Ausbruch des Corona-Virus in Deutschland jedoch eine überwiegend positive Bilanz: Für drei Viertel (74 Prozent) hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass das hiesige Gesundheitssystem insgesamt gut aufgestellt ist.
Jeder fünfte Arzt setzt noch auf das Fax
Innerhalb der Praxen und Kliniken schreitet die Digitalisierung voran: Jeder zweite Arzt (50 Prozent) erstellt Medikationspläne überwiegend digital. Eine digitale Patientenakte ist bereits bei 66 Prozent im Einsatz. 31 Prozent bewahren die Akten noch abgeheftet in Schränken oder Regalen auf. 61 Prozent verwalten eigene Notizen und Dokumentationen digital – und 37 Prozent analog.
Die Kommunikation verläuft größtenteils traditionell: Das Telefon ist der wichtigste Kanal im Austausch mit Patienten (77 Prozent), Apotheken (61 Prozent) und Praxen (53 Prozent). Jeder fünfte Arzt (19 Prozent) hält den Kontakt zu Arztpraxen überwiegend per Briefpost. 22 Prozent setzen vornehmlich auf das Fax. Lediglich jeder 20. Arzt kommuniziert überwiegend via E-Mail mit anderen Praxen (5 Prozent), Apotheken (6 Prozent) oder den Patienten (5 Prozent).
Mehr Ärzte bieten Video-Sprechstunden an
Die Umfrage bestätigt erneut, dass es in den letzten Monaten einen deutlichen Zuwachs beim Angebot von Video-Sprechstunden gab. So bieten 17 Prozent der Praxis-Ärzte Video-Sprechstunden an. Sechs Prozent taten dies bereits vor Corona, elf Prozent haben damit während Corona begonnen. Weitere 40 Prozent können sich dies für die Zukunft vorstellen. Bei den Klinikärzten sind sogar drei Viertel (73 Prozent) bereit, künftig auch Videosprechstunden anzubieten. Vier Prozent tun dies seit Corona. Insgesamt sind 75 Prozent der Ärzte, die eine Video-Sprechstunde anbieten, der Ansicht, die Pandemie habe diesem Angebot einen starken Schub verliehen. Mehr als jeder Zweite (55 Prozent) meint, dass die Behandlung in bestimmten Fällen genauso gut klappt wie ein persönlicher Termin.
Ärzte erhoffen sich einfachere Zusammenarbeit durch die ePa
Die seit dem 1. Januar in Deutschland verfügbare elektronische Patientenakte (ePa) weckt bei vielen Ärzten große Hoffnungen. Fast neun von zehn Klinik-Ärzten (89 Prozent) erwarten durch die ePa eine einfachere Zusammenarbeit zwischen Ärzten. Bei den Ärzten mit Praxis sind es 54 Prozent. Auch eine größere Transparenz für alle Beteiligten (Klinik-Ärzte: 72 Prozent / Praxis-Ärzte: 45 Prozent) zählt für viele zu den größten Vorteilen. Zugleich sehen Klinik-Ärzte (76 Prozent) wie Praxis-Ärzte (85 Prozent) die Gefahr des Datenmissbrauchs. Insbesondere Praxis-Ärzte fürchten hohe Investitionskosten (60 Prozent / Klinik-Ärzte: 28 Prozent). Jeder zweite Praxis-Arzt (52 Prozent) sieht auch eine schwierige Integration der ePa in den eigenen Behandlungsalltag.
Jeder vierte Arzt will Gesundheits-Apps auf Rezept verschreiben
Ob bei Tinnitus, Migräne oder Schlafproblemen – seit Oktober 2020 können Ärzte gegen diese und andere Beschwerden Gesundheits-Apps für das Smartphone oder Tablet verordnen. Zehn solcher offiziell zugelassenen Anwendungen stehen mittlerweile zur Auswahl. Das Angebot soll aber noch deutlich wachsen. Jeder vierte Mediziner (24 Prozent) will die sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen, kurz DiGAs, künftig verordnen. Zwei Prozent haben dies bereits getan. 28 Prozent schließen dies jedoch kategorisch aus. Bei digitalen Gesundheits-Anwendungen besteht bei rund einem Viertel der Ärzteschaft allerdings noch ein großer Informationsbedarf. Jeder zehnte Arzt (10 Prozent) weiß nach eigenem Bekunden nicht, was eine App auf Rezept ist.
Ärzte sehen Verunsicherung bei Patienten, die sich online informieren
Die Digitalisierung verändert nicht nur die Behandlungsmethoden, sondern auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Viele Menschen informieren sich mittlerweile im Internet über Symptome und Krankheiten, bevor sie zum Arzt gehen. Dabei stellen neun von zehn Medizinern (90 Prozent) fest, dass Patienten durch die Internetrecherche verunsichert werden. Zugleich sagen zwei Drittel der Ärzte (67 Prozent), dass sie den Umgang mit Patienten, die sich im Internet vorinformiert haben, als anstrengend empfinden. 62 Prozent erleben, dass Patienten bereits mit einer Diagnose aus dem Internet zu ihnen zur Behandlung kommen. Allerdings geben umgekehrt auch 42 Prozent der Ärzte an, dass die Patienten durch Informationen aus dem Internet mündiger werden. Fast jeder zweite Mediziner (48 Prozent) lernt durch gut informierte Patienten sogar hin und wieder dazu.
Dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht schneller voranschreitet, hat vielfältige Gründe. Die große Mehrheit der Ärzte (84 Prozent) nennt als Ursache die Komplexität des Gesundheitssystems. Drei Viertel (78 Prozent) empfinden den Aufwand für IT-Sicherheit und Datenschutz als zu hoch. Mehr als jeder zweite Arzt (56 Prozent) stellt aber auch eine mangelnde Digitalkompetenz seiner Patienten fest. 43 Prozent sehen diesbezüglich bei den Ärzten selbst Nachholbedarf.
Was Ärzte für die digitale Zukunft erwarten
Insgesamt gehen die Ärzte in Deutschland davon aus, dass mithilfe der Digitalisierung maßgebliche Fortschritte in der Medizin erreicht werden – auch bei der Bekämpfung globaler Pandemien. 80 Prozent der Mediziner halten es für wahrscheinlich, dass spätestens im Jahr 2030 computergestützte Voraussagen flächendeckend im Einsatz sind, die vor Pandemien warnen und z.B. durch Algorithmen die Dynamik von Infektionsgeschehen vorhersagen. 72 Prozent erwarten, dass Organe wie Speiseröhrenimplantate, Haut oder Knorpelscheiben künftig mithilfe eines 3D-Druckers entstehen. 58 Prozent rechnen zudem damit, dass Tierversuche durch Versuche an 3D-gedruckten Zellstrukturen ersetzt werden.
Hinweis zur Methodik: Grundlage der Angaben ist eine Befragung, die Bitkom Research im Auftrag des Digitalverbands Bitkom und des Hartmannbundes im November 2020 durchgeführt hat. Dabei wurden 528 Ärzte aller Funktionen und Fachrichtungen befragt, darunter Ärzte im Krankenhaus und niedergelassene Ärzte.