Langzeitfolgen einer Sepsis und ihre medizinrechtlichen Besonderheiten
A&W RedaktionEiner der führenden deutschen Wissenschaftler in der Sepsisforschung stellte kürzlich fest, dass vor allem die Langzeitfolgen einer Sepsis wenig bekannt und noch nicht ausreichend erforscht seien. Auch medizinrechtlich gibt es Besonderheiten.
So referierte Herr Prof. Dr. med. Frank Brunkhorst, Generalsekretär der Deutschen Sepsis-Gesellschaft und Träger des Bundesverdienstkreuzes für seine wissenschaftlichen Verdienste zur Sepsisforschung, auf dem 22. Deutschen Medizinrechtstag in Berlin vor Medizinrechtsexperten über die Sepsis und ihre Langzeitfolgen.
Was ist eine Sepsis?
In der Gesellschaft ist noch vielerorts der Mythos des „roten Strichs“ verbreitet. Vielmehr charakterisiert die Sepsis ein oder mehrfaches Organversagen an einem infektionsfernen Ort. Seit 2016 wird hierfür präklinisch zur Ersteinschätzung qSOFA bzw. in der intensivmedizinischen Versorgung der SOFA-Score herangezogen, sodass bei einem Punkteanstieg über 2 von einer Sepsis ausgegangen werden kann. Die meisten Infektionen befinden sich in den Atemwegen (63 %), gefolgt von intraabdominellen, an Knochen gelegenen, gastrointestinalen und urogenitalen Infektionen.
Wie viele Menschen erkranken oder sterben an einer Sepsis?
Die genauen Infektionszahlen zur Sepsis in Deutschland sind aufgrund der hohen Dunkelziffer nicht ganz klar, jedoch wurden 2015 aus Krankenhäusern ca. 320.000 Sepsisfälle gemeldet. Hinsichtlich der Letalität ist davon auszugehen, dass in Deutschland pro Jahr ca. 75.000 Menschen aufgrund einer Sepsis sterben.
Die Sterblichkeit bei einer schweren Sepsis (mit Organversagen) oder einem septischen Schock (mit kardiovaskulärem Versagen) liegt bei 54 %. Betrachtet man einen 4-Jahreszeitraum nach der Infektion, beträgt die Sterblichkeit sogar 74 %, was neben den Langzeitfolgen auch dem Altersdurchschnitt der Patienten geschuldet ist. So sind 77,5 % aller Verstorbenen älter als 75 Jahre.
Wo infizieren sich Sepsis-Patienten am häufigsten?
Das ist gar nicht so einfach zu sagen, da die Zahlen sehr auseinandergehen. So gibt es eine amerikanische Studie, die den Anteil einer nosokomialen Infektion auf ca. 13 % schätzt, eine weltweite Untersuchung kommt auf etwa 24 %. In Deutschland gehen Studien davon aus, dass zwischen 20 und 57 % der Sepsisinfektionen nosokomialen Ursprungs sind.
Sind Sepsisinfektionen vermeidbar?
Nach einer Studie in amerikanischen Krankenhäusern wären 3,7 % aller Sepsistoten sicher und 8,3 % möglicherweise vermeidbar. Somit könnten 12 % der Todesfälle verhindert werden; im Umkehrschluss 88 % nicht.
Deutschen Wissenschaftlern zufolge entstehen etwa 20 % der Infektionen im Kontakt mit Personal bzw. Besuchern und Patienten. Gerade dort gäbe es gute Präventionsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der Händedesinfektion. Des Weiteren sei eine mengenmäßige Anpassung der Antibiotikagabe als Prävention denkbar. Neben weiteren medizinischen Maßnahmen sollte nach Meinung der Experten bei intubierten Patienten so oft wie möglich eine Oberkörperhochlagerung zur Vermeidung einer ventilatorassoziierten Pneumonie (VAP) erfolgen – sofern hierfür keine Kontraindikation besteht. Auch könnten (Pneumokokken)-Impfungen bei Patienten mit Asplenie eine Sepsis verhindern.
Langzeitfolgen der Sepsis
Nach einer Sepsis kann es zu unterschiedlichen Langzeitfolgen kommen, die auch ohne eine lange intensivmedizinische Behandlung auftreten können. Das können beispielsweise Belastbarkeitsminderungen (Fatigue-Syndrom), eingeschränkte kognitive Fähigkeiten, psychische Beeinträchtigungen, Halluzinationen, Albträume, Seh-, Sprach und Schluckstörungen, Atemprobleme, Muskelschwäche, chronische Schmerzen, Polyneuropathien oder Schlafstörungen sein. Im Folgenden wird darauf genauer eingegangen.
Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS)
Nach einer langen intensivmedizinischen Behandlung können bei 80 % der ehemaligen Intensivpatienten ein PICS auftreten, die über mehrere Jahre zu erheblichen psychischen, kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen führen kann. Auch können deren Angehörige psychische Symptome (PICS-Familie) bekommen.
Kognitive Dysfunktionen
Nach einer amerikanischen Studie nahmen beispielsweise mittlere und schwere kognitive Beeinträchtigungen deutlich zu und stiegen von 6,1 % vor der Sepsis auf 16,7 % nach der Sepsis. Diese Beeinträchtigungen blieben 3 Jahre nach der überlebten Sepsis auf dem gleichen Niveau. Bei geringeren kognitiven Einschränkungen konnte jedoch kein signifikanter Anstieg im Vergleich vor der Sepsis festgestellt werden. Es können anhaltende Konzentrationsstörungen oder Gedächtnisstörungen auftreten und ein zielgerichtetes Handeln, Impulskontrolle oder Emotionsregulation beeinträchtigen.
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Zudem konnte festgestellt werden, dass viele Patienten und deren Partner psychische Beeinträchtigungen erlitten. So vermieden viele Patienten Aktivitäten, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen können, litten unter Übererregtheit, übermäßiger Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit, Ängsten, Depressionen oder akuten Panik- bzw. Agressionsausbrüchen. So konnte bei zwei Drittel der Patienten und Partner eine PTBS festgestellt werden. Unter Ängsten und Depressionen litten zwischen 26 % bis 42 % der Patienten und Partner.
Polyneuropathie- und myopathie
Darunter ist eine Schädigung der Muskeln und Nerven vor allem an Armen und Beinen zu verstehen, welche mit einem Muskelverlust und Schwäche einhergehen können. Bei 76 % der Patienten konnten bereits drei Tage nach dem septischen Schock elektrophysiologische Veränderungen festgestellt werden. Es trat beispielsweise ein distaler Verlust der Schmerz-, Temperatur- und Vibrationsempfindlichkeit oder symmetrische Schwäche ein. Diese Beschwerden gegen häufig nach einem Jahr deutlich zurück.
Weitere Langzeitfolgen einer Sepsis
Zudem kann es zu einem Wasting Syndrom mit massivem Muskelabbau und verminderter Biosynthese von Hormonen und anderen Botenstoffen durch Proteinverlust kommen. Auch sind Hyperglykämie, Insulinresistenz und Urämie möglich. Des Weiteren kann es zu neuroendokrinen Störungen kommen. Ferner können Gallengangentzündungen, Geschmacksverlust oder Leberzirrhosen auftreten. Als seltene Komplikation ist eine Purpura fulminans bei einer Pneumokokken – oder Meningokokkensepsis bekannt, sodass es durch eine akute Durchblutungsstörung der Finger oder Zehen unter Umständen zu späteren Amputationen kommen kann.
Medizinrechtliche Besonderheiten
Sepsis kann im medizinrechtlichen Bereich in verschiedenen Konstellationen auftauchen und hat eine überaus praktische Bedeutung. So konnte der Autor in einem Gespräch mit einer Fachanwältin für Medizinrecht bei der oben genannten Tagung erfahren, dass bei ihr beispielsweise jeder zweite Fall eine Sepsis beinhalte. Zu denken ist hier insbesondere an die Geltendmachung bzw. Abwehr von Schadens- und Schmerzensgeldansprüchen gegen Leistungserbringer aufgrund eines vermeintlichen Behandlungsfehlers. Auch könnte die Sepsis mittelbar durch eine Verletzung eines Erstschädigers verursacht worden sein, welche man diesem unter Umständen zurechnen kann.
Sepsis durch Behandlungsfehler?
Wie oben ausgeführt, entsteht eine große Zahl von Sepsisinfektionen im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung, die auf den ersten Blick Behandlungsfehler nahe legen können. Doch auf den zweiten Blick ist das deutlich komplizierter, da 88 % der Infektionen nicht vermeidbar sind. Daher gehört grundsätzlich die Sepsis nicht zum „vollbeherrschbaren Risiko“ eines Arztes.
Jedoch stellt sich bei den verbleibenden 12 % die Frage, ob die Infektion vermeidbar gewesen wäre und worin genau der (Behandlungs-)fehler lag. Zu denken ist beispielsweise an Hygienemängel wie unterbliebene Wund- und Händedesinfektionen oder fehlendes Tragen von Einmalhandschuhen. Wenn tatsächlich ein Fehler gefunden wurde, stellt sich in der juristischen Praxis das große Problem der Kausalität, da der Schaden gerade auf der Verletzungshandlung beruhen muss. Dieser sehr enge und häufig schwierig zu führende Kausalitätsbeweis muss mithilfe von medizinischen Sachverständigen geführt werden.
Geltendmachung von Dauer- und Spätschäden
Des Weiteren muss der Berücksichtigung von Dauerschäden (= zum Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten) und Spätschäden (= muss künftig damit gerechnet werden) besonderes Augenmerk geschenkt werden. Inwieweit Spätschäden im konkreten Einzelfall bei einer Sepsis möglich sind, sollte ebenfalls durch einen medizinischen Sachverständigen festgestellt werden. Die obigen Ausführungen geben eine grobe Orientierung. Ist mit möglichen Spätschäden aus sachverständiger Sicht zu rechnen, kann im Wege eines „einheitlichen Schmerzensgelds“ ein einmaliger Zuschlag erfolgen, was aber in der rechtswissenschaftlichen Literatur kritisiert wird. Hält ein Sachverständiger einen Spätschaden für unwahrscheinlich, so ist ein einheitliches Schmerzensgeld nicht möglich. Dann sollte ein Feststellungsantrag gestellt werden, der die spätere Geltendmachung bei Eintritt künftiger immaterieller Schäden sichert.
Fazit
Brunkhorst`s Vortrag in Berlin hat eindrucksvoll gezeigt, dass Sepsis in Deutschland gesellschaftlich, aber auch teilweise in der Medizin noch eine unterschätzte Krankheit darstellt. Gerade die Langzeitfolgen sind noch nicht ausreichend erforscht. Das stellt auch die Juristerei vor die Herausforderung, die sehr diffizilen, unscheinbaren und erst später auftretenden Folgen der Sepsis zuzurechnen und diese auf dem Rechtsweg geltend zu machen oder abzuwehren.
Autor: Johannes T. Kayser