Second-Victim-Phänomen: Wie Behandlungsfehler zu Krisen bei Ärzten führen
Ina ReinschEs ist sehr wahrscheinlich, dass Ärztinnen und Ärzten im Laufe ihres Berufslebens ein Fehler unterläuft. Nicht selten kommt es zu einer Belastungsreaktion, Ärzte werden dann zum sogenannten zweiten Opfer. Es ist wichtig, das Phänomen zu kennen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn die Krise kann die Freude am Arztberuf nachhaltig beeinträchtigen und zu einer ernsthaften Gesundheitsgefahr werden.
Ein Patient kommt in die Praxis seines Hausarztes. Seit drei Tagen habe er Durchfall, Erbrechen, starke Bauchschmerzen und fühle sich abgeschlagen, erzählt er. Aber seit heute Morgen gehe es ihm besser. Der Arzt vermutet einen Magen-Darm-Infekt, verschreibt ein Schmerzmittel und schreibt den Patienten drei Tage krank. Weitere Befunde erhebt er nicht. Der Patient verlässt die Praxis. Noch auf dem Parkplatz bricht er zusammen und kommt mit dem Notarzt ins Krankenhaus: Blinddarmdurchbruch.
Solche oder ähnliche Fälle ereignen sich immer wieder. Der Medizinische Dienst hat im Jahr 2023 im ambulanten Bereich 4.233 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt, wie die aktuelle Statistik zeigt. In jedem vierten Fall wurden ein Fehler und ein Schaden festgestellt.
Wenn Behandlungsfehler passieren, ist das immer eine Tragödie für den Patienten – aber auch für den behandelnden Arzt. Wie konnte das passieren? Ärzte haben an sich selbst oft den Anspruch, zu 100 Prozent fehlerfrei zu arbeiten. Das ist verständlich, denn Leib und Leben der ihnen anvertrauten Menschen sind ein hohes Gut. Doch auch Ärzte sind nur Menschen, Fehler passieren – die Frage ist nicht ob, sondern lediglich wann.
Schuldzuweisungen verhindern das Lernen aus Fehlern
Ärztliche Fehler sind enorm tabuisiert: Sie haben einem nicht zu unterlaufen und wenn doch, spricht man nicht darüber. Das liegt auch an unserer Fehlerkultur. Fehler gelten, anders als beispielsweise in den USA, in Deutschland als Makel. Sie werden unnachgiebig geahndet, das heißt, die Aufarbeitung besteht vielfach darin, nach einem Schuldigen zu suchen. Diese Fehlerkultur hat negative Auswirkungen. Sie führt zu Vertuschung, Angst, und Stress. Der Fehlerkultur-Report 2023 kam zu dem Ergebnis, dass 64 Prozent der befragten Führungskräfte in deutschen Unternehmen ihre Fehler unter den Teppich kehren. Ein Wandel weg von der Schuld hin zu einer Lernkultur wäre dringend nötig. Es ist wichtig, das Ärzte fragen, was sie aus einem Fehler lernen und künftig besser machen können, damit nicht noch einmal ein Patient zu Schaden kommt.
Die Schuldkultur verhindert nicht nur, dass hilfreiche Lehren für die Zukunft gezogen werden. Sie hat auch negative gesundheitliche Auswirkungen auf diejenigen, denen ein Fehler passiert ist. Sie werden, nach dem eigentlichen Opfer, zum zweiten Opfer, dem Second Victim.
Was bedeutet Second-Victim?
Damit ist eine medizinische Fachperson gemeint, die durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall am Patienten, einen medizinischen Fehler und/oder einer Verletzung des Patienten durch eine Traumatisierung selbst zum Opfer wird. Das Second-Victim-Phänomen ist zwar inzwischen gut erforscht, aber vielen niedergelassenen Ärzten und ihren Praxishelfern weitgehend unbekannt. Den Begriff hat der amerikanische Professor für Gesundheitspolitik, Management und Medizin Albert W. Wu im Jahr 2000 geprägt. Experten gehen davon aus, dass letztlich alle Ärztinnen und Ärzte im Laufe ihres Lebens einmal zum Second Victim werden.
Mangelnde Fehlerverarbeitung führt oft zum Verlust des Glaubens an die eigenen Fähigkeiten.
Eine rasche und gute Verarbeitung des Fehlers ist wichtig
Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die einen Fehler gemacht haben, bei dem ein Patient beinahe oder tatsächlich zu Schaden gekommen ist, leiden oft sehr. Typische Symptome einer dysfunktionalen Verarbeitung sind beispielsweise:
der Verlust an den Glauben in die eigenen ärztlichen Fähigkeiten
Schuldgefühle
Schlafstörungen
Isolation
Depression
Wiedererleben der Situation (Flashbacks)
Medikamentenmissbrauch, Alkoholmissbrauch
Das kann bis hin zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen, zur Berufsaufgabe und im schlimmsten Fall sogar zum Suizid. Die gute Nachricht ist aber: Bei einer raschen und guten Verarbeitung des Fehlers erholen sich fast alle Betroffenen und können ihrem Beruf wieder mit Freude nachgehen. Doch wie kann diese gelingen?
Im amerikanischen Gesundheitssystem hat sich das sogenannte CANDOR-Prinzip (Communication and Optimal Resolution) etabliert. Es ist ein patientenorientierter Ansatz, bei dem die frühzeitige Offenlegung unerwünschter Ereignisse und eine proaktivere Methode zur Erzielung eines guten Ausgleichs für alle Beteiligten im Vordergrund stehen, damit alle das Ereignis gut verarbeiten können. Es steht damit im Gegensatz zu dem bislang oft praktizierten Ansatz des Leugnens und Verteidigens.
Oft besteht allerdings die Sorge, dass das Eingestehen eines ärztlichen Fehlers dazu führt, dass der Patient den behandelnden Arzt verklagt. Die Zahlen der amerikanischen Gesundheitseinrichtungen, die nach dem CANDOR-Prinzip arbeiten, sprechen allerdings eine andere Sprache. Demnach haben diese Einrichtungen deutlich weniger Klagen von Patienten zu verzeichnen als andere Einrichtungen, wie eine Auswertung von Versicherungsdaten ergab. Warum ist das so?
Patienten reagieren mit sehr starken Gefühlen auf Zwischenfälle. Verschweigen Behandler unerwünschte Ereignisse oder kommunizieren diese nicht offen, erleiden Patienten einen zusätzlichen Vertrauensverlust. Sie haben den Verdacht, dass da etwas vertuscht werden soll, sind wütend oder verbittert. Das verstärkt das Gefühl, dass der Schuldige bestraft werden sollte. Eine offene Kommunikation mit dem Patienten ist daher wichtig, um solche Reaktionen zu vermeiden, und trägt zu einer angemessenen Verarbeitung des Ereignisses bei.
Das Aktionsbündnis Patentensicherheit e. V. nennt vier Situationen, die eine Kommunikation mit dem Patienten erforderlich machen:
wenn – schicksalsbedingt oder durch einen Fehler – ein Schaden entstanden ist,
wenn der Patient einen Schaden vermutet,
wenn das Personal einen Schaden voraussieht,
wenn der Patient einen Fehler ohne Schadensfolge bemerkt (z. B. rechtzeitig erkannte Patientenverwechslung bei Operation).
Viele Ärztinnen und Ärzte befürchten, dass das Benennen des Fehlers zu Haftungsansprüchen oder dem Verlust ihres Versicherungsschutzes führt, weil es als Schuldanerkenntnis gewertet werden könnte. Das ist jedoch nicht mehr ohne weiteres der Fall (s. Kasten).
Wie kommuniziere ich einen Fehler rechtssicher?
Das Verschweigen eines Fehlers ist keine Lösung. Ärztinnen und Ärzte sind in zwei Fällen sogar gesetzlich dazu verpflichtet, einem Patienten einen Fehler mitzuteilen (§ 630c Absatz 2 Satz 2 BGB):
auf Nachfrage des Patienten, wenn dem Behandelnden Umstände erkennbar sind, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, und
zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren.
Konkret bedeutet das: Der Patient muss informiert werden, wenn eine Folgebehandlung erforderlich ist. Ist dagegen kein Schaden entstanden, muss der Arzt den Patienten nicht über einen Fehler informieren – es sei denn, der Patient fragt danach.
Doch wie kommuniziert man den Fehler so, dass er nicht als Schuldanerkenntnis gewertet wird? Der Arzt oder die Ärztin darf sagen, was geschehen ist, und sein/ihr Bedauern ausdrücken. Formulierungen wie „Es tut mir Leid, dass …“ oder „Ich bedaure, dass ...“ sind dabei für den Patienten enorm wichtig. Vermeiden sollten Ärzte dagegen Formulierungen wie „Es ist meine Schuld“ oder „Ich nehme die Schuld auf mich“.
Bis 2008 wurde eine Entschuldigung von der Rechtsprechung oft als Schuldanerkenntnis gewertet, unter dem Motto: Wer sich entschuldigt, gibt seine Schuld zu. Das führte meist dazu, dass die Haftpflichtversicherung die Regulierung des Schadens verweigerte. Das ist heute nicht mehr ohne weiteres so.
Arztwohl ist Patientenwohl und hat nichts mit Egoismus zu tun
Versuchen Ärztinnen und Ärzte einen Fehler unter den Teppich zu kehren, gibt es dagegen nur Verlierer. Wird die Situation nicht angemessen be- und verarbeitet, leiden sie oft unter der Angst, wieder „zu versagen“, sie halten sich für schlechte Ärzte – was nicht selten zu weiteren Fehlern führt. Hinzu kommt, dass bei einem Fehler, der verdrängt wird, auch keine Änderung erfolgen kann – zum Beispiel bei den Abläufen in der Praxisorganisation, die den Fehler oft erst begünstigt haben.
Das European Researchers‘ Network Working on Second Victims (ERNST) hat fünf Punkte identifiziert, die das Risiko für das Second-Victim-Phänomen reduzieren und die negativen Folgen begrenzen sollen. An erster Stelle steht demnach die Prävention, sowohl individuell als auch organisatorisch. An zweiter Stelle steht die Selbstfürsorge. Diese ist bei Ärztinnen und Ärzten oft unterentwickelt. Sie arbeiten oft weit über ihre Belastungsgrenze hinaus und selbst dann, wenn sie selbst krank sind. Dabei hat die Fähigkeit, auf sich selbst zu achten, nichts mit Egoismus zu tun. Im Genfer Ärztegelöbnis heißt es sogar: „Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.“ An dritter Stelle kommt die Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen, wenn ein Fehler passiert ist. Kollegiale Gespräche können entlasten. Schon dadurch können sich viele Ärztinnen und Ärzte nach einem Vorfall stabilisieren. Erst an vierter und fünfter Stelle stehen professioneller Support beziehungsweise klinische Unterstützung.
Kollegiale Unterstützung finden
Gerade die Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen gestaltet sich für Niedergelassene aber oft schwierig. Anders als im Klinikalltag können sie ein Ereignis nicht so einfach mit Kollegen besprechen oder deren Meinung einholen. Hier liefert der Münchner Verein PSU Akut e. V. wertvolle Unterstützung. Er unterhält ein Zwölf-Stunden-Hilfetelefon, an das sich Ärztinnen und Ärzte, aber auch andere im Gesundheitswesen Beschäftigte kostenfrei, vertraulich und anonym wenden können. Sie erhalten dort Hilfe durch kollegiale Unterstützer und psychosoziale Fachkräfte.
Hier erhalten Ärztinnen und Ärzte Unterstützung
PSU Akut e. V.
Psychosoziale Unterstützung für Mitarbeitende im Gesundheitswesen in besonderen Belastungssituationen
Adi-Maislinger-Str. 6 - 8
81373 München
PSU-Helpline: 0800 0 911 912 (täglich 9 - 21 Uhr)
www.psu-akut.de, info@psu-akut.de
Broschüre „Reden ist Gold, Kommunikation nach einem Zwischenfall“ des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V.
www.aps-ev.de, zu finden unter „Publikationen/weitere Publikationen“