Queere Patienten: Wie sensible Versorgung klappen kann – ganz ohne Diskriminierung
Heiko FeketeDer Besuch beim Arzt ist für viele queere Patienten eine unangenehme Erfahrung. Aber auch Niedergelassene sind bei der Behandlung oft noch verunsichert. Wie können Praxisärzte Ängste, Unsicherheiten oder gar Vorurteile abbauen – und wie können sie besser sensibilisiert werden?
Mit angeschlagener Stimme betritt ein Transmann das Behandlungszimmer. Die Ärztin öffnet am Computer die Patientenakte und wirft immer wieder neugierige Blicke auf den sichtbar angespannten Patienten. „Sieht schon ganz schön überzeugend aus, mit Ihrem Bart“, kommentiert sie das äußere Erscheinungsbild des Transmanns. Auch wenn ihre Bemerkung nicht verletzend sein sollte, kam sie genauso an: Ihrem transgeschlechtlichen Patienten ist diese Bemerkung höchst unangenehm.
Die Szene ist nachgestellt und Teil einer Videoreihe des YouTube-Kanals der Deutschen Aidshilfe. Sie zeigt, in welche Fettnäpfchen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte treten können, wenn sie mit queeren Patienten kommunizieren. Unvermittelte Fragen nach körperlichen Veränderungen oder der Sexualität können von dieser Patientengruppe als übergriffig empfunden werden – darauf weist die Deutsche Aidshilfe hin.
Auch Untersuchungen, die für cis-Personen (s. Begriffserklärung unten) Routine sind, sind für Transpersonen möglicherweise traumatisierend. Oder sie erleben offen Diskriminierung im Gesundheitswesen: Laut einer Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes berichten Transpersonen, dass medizinisches Personal ihre Geschlechtsidentität oft nicht anerkannt habe. In anderen Fällen seien gynäkologische und urologische Untersuchungen, die aufgrund des biologischen Geschlechts erforderlich sind, verwehrt worden. Das deckt sich mit Zahlen der Aidshilfe, wonach 70 Prozent der Transpersonen negative Erfahrungen im Gesundheitswesen gemacht haben. Auch 37 Prozent der homosexuellen Männer reden mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin nicht offen über ihre sexuelle Identität.
Queerfreundliches Beispiel aus der Praxis
Aus diesem Grund will die Organisation niedergelassene Ärztinnen und Ärzte dabei unterstützen, sie im Umgang mit queeren Patienten zu sensibilisieren – etwa mit dem Gütesiegel „Praxisvielfalt“. Damit zertifiziert die Deutsche Aidshilfe Arztpraxen, die sich unter anderem dafür einsetzen, dass Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung diskriminierungsfrei versorgt werden. Eine Praxis, die dieses Siegel trägt, ist die allgemeinmedizinische Praxis von Dr. med. Christian Wichers in Hannover. Auf seiner Webseite spricht er das Thema Trans-Gesundheit explizit an und gibt queeren Neupatienten so eine erste Orientierung. „Ich selber habe mich dem Thema ein bisschen intensiver angenommen, als an mich herangetragen wurde, ob ich nicht eine besondere Gesundheitsversorgung beziehungsweise Räumlichkeiten oder Praxis anbieten könnte für die Versorgung von transgeschlechtlichen Patienten“, sagt der Niedergelassene im Gespräch mit ARZT & WIRTSCHAFT.
Seit ungefähr acht Jahren betreut er diese Patientengruppe und begleitet sie zum Beispiel beim Übergang von einem Geschlecht in ein anderes, der sogenannten Transition. Die Kommunikation ist für ihn auch ein Schlüssel, um Berührungsängste abzubauen. „Meine Mitarbeiterinnen tragen in die Akte ein, wie die Person angesprochen werden möchte, und wir fragen auch nach dem Wunschvornamen und -pronomen, gerade auch bei nichtbinären Patienten – das erleichtert mir das Aufrufen. Ich versuche, möglichst empathisch zu kommunizieren, damit sich die Patienten bei diesem sensiblen Thema öffnen, und ich nehme mir von vornherein mehr Zeit für das Gespräch.“
Auch auf die Außendarstellung in der Praxis legt der Hausarzt viel Wert: Informationsmaterialien sollen die anderen Patienten dafür zusätzlich sensibilisieren, dass bei ihm eine queersensible hausärztliche Gesundheitsversorgung stattfindet. Die beinhaltet für Dr. Wichers auch Aspekte wie Prävention, sexuelle und psychische Gesundheit.
Letzteren Punkt beschreibt auch das „Journal of Health Monitoring“ des Robert Koch-Instituts (RKI) zur gesundheitlichen Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen vom März 2020: Demnach können Diskriminierungserfahrungen die psychische Gesundheit queerer Personen verschlechtern, insbesondere bei Transpersonen, da die Medizin noch überwiegend an einer zweigeschlechtlichen Norm orientiert ist, so der RKI-Bericht.
Dass strukturelle Defizite zu Unsicherheiten bei der Versorgung von Trans-Patienten führen, beobachtet auch Dr. Wichers: „Nicht nur bei der ärztlichen Ausbildung, sondern auch in anderen Gesundheitsberufen sind diese Themen immer noch Randgebiete. Dadurch werden sie selten so thematisiert, dass sich jüngere Menschen in den Gesundheitsberufen damit frühzeitig auseinandersetzen, anders als sie es gesamtgesellschaftlich sicherlich mehr und mehr tun.“
Unsicherheiten und Vorurteile auszuräumen, darauf zielt auch der Zertifizierungsprozess von „Praxisvielfalt“ ab. Bevor sich interessierte Niedergelassene zur Zertifizierung anmelden, können sie gemeinsam mit dem Praxisteam in zwei Schritten reflektieren, wo gegebenenfalls noch Handlungsbedarf besteht.
Weiterbildung durch Lernvideos
Die Aidshilfe bietet dazu auch Fragebögen zur Selbsteinschätzung an. „Im Zertifizierungsprozess selbst haben wir gelernt, wie man die Praxis queerfreundlicher gestaltet und eine grundsätzliche Haltung zu dem Thema für sich selber entwickelt“, so der Erfahrungsbericht von Dr. Wichers.
Sich selbst und das Praxisteam vorher einzuschätzen, ist für ihn eine wichtige Voraussetzung: „Ich kann als Praxisinhaber nicht voraussetzen, dass alle meine Mitarbeiterinnen gleich offen mit der Thematik umgehen. Sie haben genauso ihre Unsicherheiten, wie ich sie vielleicht anfangs hatte.“ Die Weiterbildung, um das Siegel zu erhalten, beinhaltet auch Lernvideos wie die eingangs erwähnte Szene mit dem erkälteten Transmann. Sie befassen sich außerdem mit einer sensibilisierten Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund. Das Konzept will so die Diskriminierung im Gesundheitswesen möglichst allumfassend reduzieren. Damit zum Beispiel schwule, lesbische, trans- und intergeschlechtliche Patientinnen und Patienten nicht das Gefühl bekommen, von der gesundheitlichen Versorgung ausgegrenzt zu werden.
In der allgemeinmedizinischen Praxis von Dr. Christian Wichers aus Hannover ist das nicht der Fall – und der Niedergelassene spürt das Vertrauen: „In meinen 15 Jahren Praxistätigkeit habe ich queere Patienten als mit die dankbarsten Patienten erlebt. Und wenn sie von ihrem Leidensweg berichten, aber gleichzeitig auch offener werden und den Mut haben, weitere Schritte zu gehen – das fasziniert und berührt mich immer wieder.“
Verzeichnis für queerfreundliche Ärztinnen und Ärzte |
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Das Projekt „Queermed Deutschland“ listet Niedergelassene auf, die aufgrund von Empfehlungen aus der queeren Community oder auch von außerhalb als besonders queerfreundlich gelten. Hausärztinnen und Hausärzte können das Verzeichnis zum Beispiel für Facharztüberweisungen nutzen und sich auch darüber informieren, ob die Praxiskollegen bei Bedarf auch Mehrsprachigkeit anbieten können. Ein Leitfaden unter queermed-deutschland.de soll Praxisinhabern zusätzlich Anhaltspunkte für eine diskriminierungsfreie Behandlung von Patientinnen und Patienten an die Hand geben. |
Begriffserklärung
- queer: Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, und für Geschlechtsidentitäten, die nicht binär oder cisgender sind.
- cis/cisgender: Personen, die als „cis“ oder „cisgender“ bezeichnet werden, identifizieren sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
- trans*: Personen, deren empfundenes Geschlecht nicht mit dem zugewiesenen übereinstimmt; Transmänner sind weiblich geboren, identifizieren sich aber als Mann. Transfrauen sind männlich geboren und fühlen sich zum weiblichen Geschlecht zugehörig.
- nichtbinär: Überbegriff für Personen, die weder ausschließlich weiblich noch ausschließlich männlich sind.
- inter/intergeschlechtlich: Bezeichnet Menschen, die anhand ihrer körperlichen Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als männlich oder weiblich einzuordnen sind.
- divers: Neue Geschlechtsangabe, die inter*- und nichtbinäre Personen seit dem 1. Januar 2019 in Anspruch nehmen können.
- Geschlechtsangleichung: Beschreibt alle medizinischen Maßnahmen, die eine trans*Person durchführen lassen kann (z. B. Hormonersatztherapie). Der Prozess der Geschlechtsangleichung, sowohl aus medizinischer als auch aus juristischer Sicht, wird Transition genannt.