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Praxis

Herr Dr. Korte, Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie und leisten wissenschaftliche Beiträge zum Thema. Wie ordnen Sie den Cass-Report ein?

Dr. Alexander Korte: Die Pädiaterin Dr. Hilary Cass spricht aus, was seit Jahren auch mein Anliegen ist. Die zentrale Frage bei einer geschlechtsangleichenden Behandlung lautet: Was ist der Nutzen? Gibt es Belege dafür, dass sich das psychische Wohlbefinden dadurch tatsächlich verbessert?

Die Behandlung ist unter Fachleuten umstritten. Warum?

Dr. Alexander Korte: Die Transbehandlung erfolgt in mehreren Schritten, beginnend mit Pubertätsblockern, gefolgt von gegengeschlechtlichen Hormonen und schließlich unter Umständen chirurgischen Maßnahmen. Allerdings ist schon die Behandlung mit Pubertätsblockern teilweise irreversibel. Zudem entscheiden sich 95 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die mit Pubertätsblockern behandelt wurden, im zweiten Schritt auch für gegengeschlechtliche Hormone. Ist der Zug erst einmal in Bewegung gesetzt, gehen die Jugendlichen also diesen Weg in aller Regel weiter.

In welchen Fällen befürworten Sie eine solche Behandlung?

Dr. Alexander Korte: Wenn die psychosexuelle Entwicklung abgeschlossen ist und alles für eine irreversibel fixierte transsexuelle Entwicklung spricht. Aber auch dann gibt es keine Erfolgsgarantie. Für manche Betroffene ist es eine Erlösung, viele sind danach aber enttäuscht, weil sie sich immer noch nicht wohlfühlen oder das Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht, gerade auch bei Operationen. So liegt beispielsweise die Komplikationsrate bei den so genannten Neophalli bei über 50 Prozent; viele leiden unter Harnwegsinfekten, Harnröhrenverengungen oder Fistelbildungen.

Wie wird erkannt, ob die psychosexuelle Entwicklung abgeschlossen ist?

Dr. Alexander Korte: Wichtige Aspekte sind die sexuelle Orientierung, mögliche sexuelle Präferenzbesonderheiten und die Reaktionen auf bestimmte Körperbilder. Um auszuschließen, ob jemand vor allem ein Problem mit der eigenen Homosexualität hat, werden in psychotherapeutischen Gesprächen auch Fragen zu Masturbationsfantasien gestellt. Das hat nichts mit Voyeurismus zu tun, wie manchmal angenommen wird. Viele Jugendliche empfinden ihre eigene Homosexualität immer noch als große Herausforderung, was zu Identitätskrisen führen kann. Im Gegensatz dazu erhält die Transidentifikation in letzter Zeit zunehmend mehr externe Bestätigung. Dies kann für Jugendliche attraktiv sein, die zuvor gemobbt wurden oder anderweitig keinen Anschluss finden.

Der Cass-Report benennt auch Pornos als Einflussfaktor auf Transwünsche. Was steckt dahinter?

Dr. Alexander Korte: Internetpornografie wird als einer von vielen möglichen Einflussfaktoren aufgeführt, die insbesondere biologische Mädchen betreffen. Diese Pornos unterscheiden sich in weiten Teilen deutlich von den Erotikmagazinen der Achtziger und Neunziger Jahre. Wenn ein junges Mädchen mit Pornografie konfrontiert wird, die Sex als phallus- und ejakulationszentriert darstellt und zum Teil mit Gewalt und Erniedrigung einhergeht, kann dies möglicherweise zu einer Ablehnung der weiblichen Rolle beitragen. Ich halte diesen Punkt jedoch nicht für entscheidend.

Was ist der Cass-Report?

Die britische Kinderärztin Dr. Hilary Cass hat im April 2024 ihren Abschlussbericht für den NHS zur Überprüfung der Leistungen zur Geschlechtsidentität für Kinder und Jugendliche vorgelegt. Bereits der Zwischenbericht von 2022 führte dazu, dass das Vereinigte Königreich (UK) die Abgabe von Pubertätsblockern an Minderjährige verbot, außer im Rahmen klinischer Studien. Der Abschlussbericht weist auf den Mangel an qualitativ hochwertiger Forschung hin und kritisiert, dass die bisherigen Behandlungsrichtlinien nicht evidenzbasiert sind. Dr. Cass warnt auch vor den Risiken der sozialen Transition; Hausärzte und -ärztinnen sollten ihr zufolge künftig nicht mehr Pubertätsblocker verschreiben dürfen. Gender-Dienste sollten nach den gleichen Standards wie andere Gesundheitsdienste für Kinder arbeiten und eine ganzheitliche Bewertung der Patientinnen und Patienten vornehmen, so ihre Forderung. Dies schließt ein Screening auf Entwicklungsstörungen und eine Beurteilung der psychischen Gesundheit ein.

Wie erklären Sie sich den massiven Anstieg von Transsexualität bei jungen biologisch weiblichen Personen? In Schweden ist die Diagnosehäufigkeit binnen eines Jahrzehnts um 1.500 Prozent gestiegen.

Dr. Alexander Korte: Der Eintritt in die Pubertät wird von Mädchen weniger lustvoll erlebt als von Jungen und ist zunächst vor allem mit Herausforderungen verbunden. Was beim Jungen die erste Ejakulation ist, ist beim Mädchen die erste Menarche. Sie wirft zuerst Fragen der Hygiene auf und ist oft mit Unwohlsein und Schmerzen verbunden. In unseren Befragungen haben viele Mädchen auch damit zu kämpfen, dass ihr Körper weiblicher wird.

Werden also die typisch weiblichen Kurven abgelehnt?

© LMU

Dr. med. Alexander Korte ist Kinder- und Jugendpsychiater.

Das ist durchaus häufiger der Fall. Identitäts- und Rollenunsicherheiten sowie eine „Schamkrise“ sind typisch für die Pubertät. Bei weiblichen Jugendlichen kommt oft ein negatives Selbstbild hinzu. Maladaptive, das heißt letztlich negative Bewältigungsstrategien für Überforderungen in der Jugend sind dann in manchen Fällen Geschlechtsdysphorie und Anorexia nervosa. Beide sind körperdysphorische Störungen, die mit der Sexualität in Verbindung stehen.

Spielen Soziale Medien eine Rolle?

Dr. Alexander Korte: Vermutlich. Eine steigende Zahl von Influencern motivieren in sozialen Netzwerken zu einer vermeintlich problemlosen Transition. Das scheint Folgen zu haben. Im letzten Schuljahr antwortete etwa ein Drittel der Mädchen auf unsere Frage, was sie sich von einer guten Fee wünschen würden, dass sie lieber ein Junge wären. Diese Antwort war in den Jahren zuvor selten so konkret zu hören.

Was verbinden diese biologischen Mädchen mit einer Transition?

Dr. Alexander Korte: Im Vordergrund steht, dass Mädchensein und Frauwerden mit vielfältigen Benachteiligungen und Überforderungen verbunden ist. Unsere Befragungen zeigen keinen starken Wunsch nach männlichen Körpermerkmalen, obwohl die Mädchen ihren sich verändernden weiblichen Körper und die weibliche Geschlechtsrolle ablehnen. Diese Mädchen erfüllen somit nicht die diagnostischen Kriterien einer klinisch relevanten Geschlechtsdysphorie nach DSM-5. Dennoch führt eine solche Symptombeschreibung häufig zu Fehldiagnosen und Überweisungen an Spezialambulanzen.

Wann liegt aus Ihrer Sicht ein genuiner Transitionswunsch vor?

Dr. Alexander Korte: Wenn von Beginn an, seit dem frühen Kindesalter, klare und konsistente Berichte über das Geschlechtsempfinden vorliegen. Dann kann man sicherer sein, dass es sich um eine echte Transsexualität handelt.

Wie kann man Trans-Wünschen, die erstmals in der Pubertät aufsteigen, sachgerecht begegnen?

Dr. Alexander Korte: Es ist wichtig, differenzierte Angebote für Mädchen und Jungen zu schaffen, besonders im Bereich der Sexualpädagogik und medizinischen Beratung. Programme wie die Mädchen-Sprechstunde der Gynäkologin Dr. Gisela Gille aus Lüneburg sind gute Ansätze. Sie bieten pubertierenden Mädchen frühzeitig ein Beratungsangebot, das speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Anekdotisch mehren sich Berichte, dass Transjungen oft besonders dazu neigen, über die Stränge zu schlagen und sich rüpelhaft zu verhalten. Ist das eine Art Überkompensation?

Dr. Alexander Korte: Transjungen, die Testosteron einnehmen, erleben häufig eine extreme Steigerung des Selbstbewusstseins und der Libido. Das führt zunächst zu einem Hochgefühl. Aber später, in den Zwanzigern, kommt es oft zu Zweifel und Enttäuschungen – besonders wenn es um Operationen geht. Ein Transmann, der sich als schwul identifiziert, hat es beispielsweise in der Schwulenszene schwer, da dort das männliche Genital eine sehr zentrale Rolle spielt. Wenn der eigene Neophallus nur bedingt funktionstüchtig ist, gibt es dann oft ein böses Erwachen.

Vita des Experten Dr. med. Alexander Korte

  • Leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum der Universität München

  • Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft

  • Mitherausgeber der Fachzeitschrift Sexuologie, Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft

  • Autor u.a.: (2018): Pornografie und psychosexuelle Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext. Gießen.