Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis
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Die Anamnese ist das Herzstück der ärztlichen Tätigkeit. Sie bildet die Grundlage für Diagnose und Therapie. So verbringen Ärztinnen und Ärzte einen Großteil ihrer Zeit damit, die Krankengeschichte ihrer Patienten zu erheben. Vor allem bei noch unbekannten Patienten ist es hilfreich, durch gezielte Fragen und aktives Zuhören wichtige Informationen zusammenzutragen. Um Ärztinnen und Ärzten eine strukturierte Anleitung für die Anamnese an die Hand zu geben, erstellte die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V (DEGAM) die neue S1-Leitlinie „Das anamnestische Erstgespräch in der hausärztlichen Praxis – Module der Gesprächsführung mit einer/m bisher unbekannten Patientin oder Patienten“.

Darin finden Interessierte sieben Handlungsmodule, die es erleichtern, alles Wichtige über den Patienten zu erfahren.  

Modul 1: Patientenzentrierung

Die Anamnese startet mit der namentlichen Begrüßung des Patienten. Falls er nicht von sich aus beginnt die Beschwerden zu schildern, können Ärztinnen und Ärzte das Gespräch mit einer offenen Frage in Gang bringen: „Was führt Sie zu mir?“

Während der Patient sein Anliegen darstellt, sollten sich Ärztinnen und Ärzte zurücknehmen, aktiv zuhören, indem sie durch Körpersprache wie Nicken oder Mmh- und Ja-Sagen zum Weitersprechen ermuntern. Dabei können sie den Patienten genau beobachten. Wie sehen Mimik, Gestik und Körperhaltung aus? Welche Wörter verwendet er? Welche Kleidung trägt er? Wie ist seine Stimmung? Zwischendurch ist es ratsam, das Gesagte zusammenzufassen und zu wiederholen: „Verstehe ich Sie richtig, dass…?“

Abschließend für dieses Modul eignet sich die Frage: „Ist noch etwas wichtig für Sie?“ Ärzte, die so vorgehen, können umfassende Informationen über den Gesundheitszustand des Patienten in Erfahrung bringen – was sich im Hinblick auf künftige Behandlungen nicht nur zeitsparend auswirkt, sondern auch Über- oder Unterdiagnostik sowie unnötige Therapien zu verhindern hilft.

Zudem ermöglicht das aktive Zuhören und bewusste Reflektieren auch eigene Emotionen und Handlungsimpulse besser wahrzunehmen und gegebenenfalls gegenzusteuern.

Modul 2: Arztzentriertes Klären

Im weiteren Gesprächsverlauf folgt die differentialdiagnostische Einordnung mit direkten Fragen: „Wie? Wo? Wie oft?“ „Wann wird es besser, wann schlechter?“ „Gibt es Ausnahmen?“ „Seit wann?“ „Haben Sie noch weitere Beschwerden?“

Zwischen den verbalen Interventionen können Ärzte dann die körperliche Untersuchung einbauen. Sie vermittelt durch ihre rituellen Aspekte zusätzlich Vertrauen und Sicherheit.

Modul 3: Einordnen der Beschwerden in den psychosozialen Kontext

Um das Gesamtbild abzurunden, können folgende Fragen zum psychosozialen Kontext helfen: „Was gelingt Ihnen nicht mehr so gut wie zuvor?“ „Wann geht es Ihnen besser?“ „Was wäre möglich, wenn Sie diese Beschwerden nicht hätten?“ „Was meinen Ihre Mutter, Vater, Partner, Arbeitskollegen… zu Ihren Beschwerden?“

Modul 4: Bewältigungsstrategien des Patienten erfassen

Wenn Ärzte die bisher bewältigten Herausforderungen im Umgang mit der Krankheit wertschätzen und Patienten positiv ermuntern, stärkt dies deren Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit und kann neue Handlungsspielräume eröffnen.

Mögliche Fragen der Ärztinnen und Ärzte sind: „Was haben Sie selber unternommen, um...?“ „Was tun Sie, wenn Sie sich schlecht fühlen? „Was hat geholfen? Was weniger?“ Ärzte können auch die Ressourcen des Patienten wie Stärken, Lebensleistungen, Hobbys und ähnliches erfragen und würdigend festhalten: „Was haben Sie gut bewältigt in Ihrem Leben?“ „Wer hat Ihnen dabei geholfen?“ „Wer oder was könnte Ihnen heute helfen?“

Modul 5: Biografische Anamnese

Jeder Patient bringt seine persönliche Geschichte mit. Um Erkrankungen ganzheitlich zu erfassen, ist es essenziell, sie im bio-psychosozialen sowie ökologischen Kontext zu betrachten. Ein zentraler Bestandteil ist daher die Einordnung der Symptome in den aktuellen psychosozialen und biografischen Hintergrund – insbesondere im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen. Dies trägt dazu bei, Missverständnisse und Fehlversorgung zu vermeiden sowie unterstützende Ressourcen aus Familie, Nachbarschaft und Arbeitsumfeld gezielt einzubeziehen.

Ärztinnen und Ärzte können die Anamnese noch mit diesen Fakten ergänzen: Wo und wann wurde der Patient geboren? Hat er Krieg oder Vertreibung erlebt? Welchen kulturellen Hintergrund hat er? Wie ist der schulische Werdegang, die derzeitige Arbeitssituation und der Familienstand? Welche Rolle spielte Schmerz oder Erkrankung in der Herkunftsfamilie und wie wurde damit umgegangen?

Modul 6: Ziele, Vorgehen und Terminstruktur

Für ein nach diesen Modulen geplantes hausärztliches Erstgespräch sind meist 20 Minuten anzusetzen. Der Umfang des Gesprächs richtet sich dabei vor allem nach dem Patientenanliegen: Handelt es sich um einen einmaligen, kurzen Kontakt oder um den Beginn einer langfristigen Betreuung? Zudem spielen auch das Befinden der Ärztin beziehungsweise des Arztes und die verfügbaren zeitlichen Ressourcen eine wesentliche Rolle.

Zur Abstimmung von kurz- und langfristigen Zielen sollten Ärzte ihre Patienten mit einbeziehen, um deren Adhärenz zu fördern. Hilfreich kann hier die Frage sein: „Was soll für Sie wieder – oder trotzdem – möglich werden?“

Es kommt auch gut an, wenn Ärzte proaktiv die Terminstruktur mit dem Patienten absprechen: „Kommen Sie in… Tagen/Wochen wieder, um gemeinsam Ihre Beschwerden zu überprüfen. Entspricht das Ihren Vorstellungen?“ Und zu guter Letzt können Ärzte vor der Verabschiedung nochmal nachfragen: „Habe ich das Wichtige verstanden, was Ihnen heute am Herzen liegt?“

Modul 7: Reflexion und Dokumentation

Nach dem Gespräch sollten sich Ärzte Zeit einräumen, um das Gespräch zu reflektieren und die wesentlichen Fakten als persönliche Erinnerungshilfen sorgfältig zu dokumentieren.

Fazit: Mit diesen sieben Modulen sind Ärztinnen und Ärzte für das Erstgespräch mit noch unbekannten Patienten gerüstet. Aber nicht nur dafür. Selbstverständlich eignen sie sich auch für die Anamnese bei bekannten Patienten.

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Bei neuen Patienten verläuft die Anamnese ausführlicher
Ich betreibe eine ländliche Praxis. Natürlich verläuft die Anamnese anders, wenn man den Patienten kennt. Bei neuen Patienten ist sie ausführlicher, die Hintergründe werden genauer erforscht. Ich habe aber hauptsächlich langjährige Patienten. Im Dorf und im Umland kennt man sich, es gibt kaum Zuzug.
Dipl. med. Claudia M., Hausärztin aus Sachsen

Es kommt immer auf die Problematik des Patienten an
Beim Erstgespräch kommt es immer auf die Problematik des Patienten an. Wenn zum Beispiel ein junger Patient mit Halsschmerzen kommt, frage ich nicht unbedingt nach seinem sozialen Umfeld. Ansonsten frage ich schon nach den Lebensumständen und vor allem nach Vorerkrankungen. In Erinnerung geblieben ist mir eine Patientin mit einer seltenen Erkrankung, die bereits besser darüber informiert war, als ich selbst. Das fand ich sehr interessant.
Dr. med. Martina Niggl-Fisser, Hausärztin aus Tegernsee

Ich klopfe erst die psychosozialen Hintergründe ab
Auch nach über 40 Jahren Praxisbetrieb habe ich noch jeden Tag neue Patienten. Ich versuche immer erst herauszufinden, welche Persönlichkeit der neue Patient hat, wie er sozial aufgestellt ist, ob er alleine lebt oder Familie hat, wie die Entwicklung der Kinder ist und ob diese Sorgen bereiten, was er beruflich macht, ob er zum Beispiel mit dem Mindestlohn auskommen muss. Mit all diesen Informationen kann ich den Patienten besser einschätzen.
Dr. med. Hans-Hermann Zimny, Hausarzt aus Bad Pyrmont

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