Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Arzthaftungsrecht

Nicht immer ist auf Anhieb klar, woran ein Patient leidet. Es gehört zum Handwerkszeug niedergelassener Ärztinnen und Ärzte, in solchen Fällen gründlich zu überlegen und die richtige Befunderhebung in die Wege zu leiten. Dabei ist es wichtig, vor allem lebensbedrohliche Erkrankungen rasch auszuschließen. 

Wie Ärzte dabei rechtssicher vorgehen, skizziert ein Urteil des Oberlandesgerichts Rostock. Der Entscheidung liegt ein jahrelanger Rechtsstreit zugrunde, in dem Eltern für ihr mehrfach behindertes Kind Schadenersatzansprüche gegen mehrere Ärztinnen und Ärzte geltend machten. Sie ist aber auch für Hausärzte und Internisten interessant, da sich ähnliche Fälle auch bei der Behandlung Erwachsener ereignen können.

Mehrere Ärzte entscheiden falsch

In dem Fall hatte sich eine Mutter 2005 mit ihrem damals ein Jahr alten Sohn an einem Sonnabend im kinderärztlichen Bereitschaftsdienst vorgestellt. Der Junge fieberte und war in den zwei Wochen davor mit Verdacht auf einen Infekt beim Kinderarzt. Schon im Frühjahr war er wegen des Verdachts auf Meningitis in stationärer Behandlung. Er war nicht gegen Pneumokokken geimpft. Die Untersuchung bei der im Bereitschaftsdienst arbeitenden Kinderärztin ergab die (Verdachts-)Diagnosen „akut respiratorische Erkrankung“, beginnende Sinusitis und Konjunktivitis rechts. Die Ärztin empfahl die Gabe von Umckaloabo-Tropfen, Inhalieren von Kochsalz, Nasen- und Augentropfen sowie Paracetamol. Am Sonntag kam die Mutter erneut in den Bereitschaftsdienst, weil sich der Zustand ihres Sohnes verschlechterte. Dort hatte nun eine andere Ärztin Dienst. Sie überwies das Kind wegen eines geröteten, aber schlecht einsehbaren Mittelohrs in die Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.

Dort untersuchte eine Ärztin das Kind, befundete einen Infekt der oberen Luftwege und einen Tubenmittelohrkatarrh und entließ es nach Hause. Am Abend erbrach sich das Kind und verweigerte die orale Medikamentengabe. In der Nacht wurde es in der Kinder- und Jugendklinik auf der Intensivstation aufgenommen. Dort wurde eine bakterielle Pneumokokken-Sepsis/Meningitis diagnostiziert. Wenige Stunden später kam es zu Krampfanfällen. Das Kind entwickelte ein schweres Residualsyndrom mit schwerer Mehrfachbehinderung und Epilepsie.

Das Kind verklagte, vertreten durch seine Eltern, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wegen grober ärztlicher Fehler. Der Rechtsstreit zog sich über Jahre hin. Die beteiligten Ärztinnen und Ärzte stritten erbittert darüber, wer zu welchem Zeitpunkt von welchen Symptomen gewusst hatte. Die Klagen gegen drei Ärzte wurden abgewiesen, die beiden im Bereitschaftsdienst tätigen niedergelassenen Ärztinnen wurden verurteilt.

Diagnosen kritisch prüfen

Juristisch ging es vor allem um die Abgrenzung eines Diagnoseirrtums von einem Befunderhebungsfehler. Laut Gericht wäre der Verdacht auf eine bakterielle Infektion durch weitere Befunderhebungen abzuklären gewesen. Gerade weil die aufgetretenen Symptome in der Regel mehrere Ursachen hätten, werde von einem Arzt verlangt, seine zunächst gestellte Verdachtsdiagnose kritisch zu überprüfen und bei Anhaltspunkten für deren Unrichtigkeit weitergehende diagnostische Maßnahmen zu veranlassen, sagte das Gericht. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn die ersten Befunde oder auch nur die Anamnese den Verdacht auf das Vorliegen einer gefährlichen Erkrankung ergeben. Diesen Verdacht müsse der Arzt mit den hierfür üblichen Befunderhebungen abklären, also entweder erhärten oder ausräumen. 

Bei Vorliegen mehrerer Diagnosemöglichkeiten sei die gefährlichere Diagnose immer zuerst auszuschließen, bevor weniger gefährliche Erkrankungen verifiziert oder ausgeschlossen werden.