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Arbeitsrecht

Laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung häuften deutsche Arbeitnehmer im Jahr 2021 1,7 Milliarden Überstunden an. Rund die Hälfte davon wurde nicht bezahlt. Ein Grund: Vielfach werden Überstunden nicht dokumentiert, lassen sich deshalb nicht belegen und gehen in der Bezahlung unter. Doch damit dürfte nun Schluss sein. Denn laut einer aktuellen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sind alle Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeitenden aufzuzeichnen – und zwar nicht erst dann, wenn die Bundesregierung ein Gesetz dazu erlässt, sondern ab sofort oder besser gesagt eigentlich schon seit 2019 (Beschluss vom 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21).

Ohrfeige für den deutschen Gesetzgeber

Zu dem spektakulären Beschluss des BAG kam es, weil ein Betriebsrat einer vollstationären Wohneinrichtung mit dem Arbeitgeber über sein Initiativrecht zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung stritt. Der Fall landete vor dem Landesarbeitsgericht Hamm, das entschied: Der Betriebsrat dürfe in die Wege leiten, dass eine Arbeitszeiterfassung eingeführt wird. Das BAG kassierte indessen diese Entscheidung, jedoch mit einer unerwarteten Begründung: Der Betriebsrat habe kein Recht, die Einführung einer Zeiterfassung zu verlangen, denn alle Arbeitgeber sind bereits jetzt nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, eine solche Zeiterfassung vorzunehmen.

Zu dieser Überzeugung gelangte das Gericht aufgrund des sogenannten Stechuhr-Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, 14.05.2019, Rechtssache C-55/19). Dieser hatte bereits 2019 entschieden, dass die Staaten der Europäischen Union ein objektives und verlässliches System zur Arbeitszeiterfassung schaffen müssen. Wie das genau aussehen könnte, ließ das Gericht offen. Passiert ist seitdem in Deutschland nichts. Nun erhielt der deutsche Gesetzgeber die Quittung: Es bedürfe gar keines Extragesetzes zur Erfassung von Arbeitszeiten. Wenn man das Arbeitsschutzgesetz nach dem Stechuhr-Urteil des EuGH europarechtskonform auslege, dann sind deutsche Arbeitgeber ohnehin gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden aufzuzeichnen.

Arbeitgeber, Personalabteilungen und Juristen in Deutschland sind inzwischen in heller Aufruhr. Welche praktischen Auswirkungen die Entscheidung des BAG hat, ist noch nicht abzusehen, da die schriftliche Begründung noch nicht vorliegt. Eine Rückkehr zur Stechuhr dürfte es aber nicht geben.

Viele praktische Fragen nach wie vor offen

Grundsätzlich eignen sich zur Erfassung der Arbeitszeit auch in Arztpraxen elektronische Lesegeräte ebenso wie Stundenzettel oder Excel-Tabellen. Wer die Arbeitszeit nicht erfasst, handelt rechtswidrig. Nach dem BAG-Urteil dürfte sich die Position von Arbeitgebern und damit auch Praxisinhabern in Streitfällen deutlich verschlechtern.

Es ist zu erwarten, dass auch der schriftlichen Begründung des Beschlusses nicht zu entnehmen sein wird, wie die Zeiterfassung nun praktisch ablaufen soll. Der Gesetzgeber ist also weiterhin in der Pflicht, diese Fragen durch eine klare gesetzliche Regelung zu beantworten. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits angekündigt, eine flächendeckende Erfassung der Arbeitszeit per Gesetz durchsetzen zu wollen.

Das sagt ein Arbeitsrechts-Experte
„Mit der Entscheidung überholt das Bundesarbeitsgericht auch den Gesetzgeber, der bislang noch keine gesetzliche Regelung zur Umsetzung der europäischen Vorgaben geschaffen hat. Es ist davon auszugehen, dass die heutige Entscheidung auch neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren bringen wird. Der Gesetzgeber ist durch die heutige Entscheidung in großen Zugzwang geraten.“
Prof. Michael Fuhlrott, Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg