Mit gutem Beispiel voran: Null Toleranz für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
Deborah WeinbuchVerbale Belästigungen und körperliche Übergriffe können alle im Gesundheitswesen Tätigen treffen. Von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion fehlt aber bislang fast jede Spur und so mangelt es oft an Unrechtsbewusstsein. Eine Bestandsaufnahme.
Menschen, die Patienten versorgen, erleben öfter als man denkt sexualisierte Gewalt. Vor allem Frauen sind davon betroffen. ARZT & WIRTSCHAFT wollte daher wissen: Wie sicher sind Frauen im Gesundheitswesen eigentlich?
Sexuelle Übergriffe vonseiten der Patienten
Bei einer Nachfrage im Pflegebereich erzählte zum Beispiel die stationäre Krankenpflegerin Anne (Name geändert) aus Hamburg: „Tätscheleien von Patienten, wenn man sie bettet, der Griff in Richtung Hüfte und Gesäß, das sind die Klassiker des Alltags.“
Manche Patienten masturbieren, wenn die Pflegerin ins Zimmer kommt. Eine Kollegin von Anne fragte einen Patienten bei der Nachmittagsrunde, ob sie noch etwas für ihn tun könne. Mit obszönen Worten, die seinen Wunsch nach Geschlechtsverkehr zum Ausdruck brachten, griff er ihr an die Brust. Der Chefarzt ermahnte den Mann zwar nach ihrer Beschwerde, weitere Konsequenzen gab es jedoch nicht.
Sexuelle Übergriffe im Kollegenkreis
Doch nicht nur Patienten würden übergriffig, berichtet Anne. Sexualisierte Gewalt sei auch schon im Kollegenkreis vorgekommen. So habe ein Arzt eine Mitarbeiterin unter dem Rock fotografiert. Einer anderen wurde am Telefon auf die Frage, ob ein bestimmtes Medikament noch vorrätig sei, geantwortet: „Das Medikament habe ich nicht da, aber vaginal kann ich dir alles geben.“
Unerwünschte sexuelle Annäherungen sind in der Pflege häufig, auch wenn es sehr selten zu Anzeigen oder Gerichtsverfahren kommt. Laut einer Studie im „Journal of Advanced Nursing“ (Waschgler et al. 2013) werden zwei Drittel der Pflegekräfte mindestens einmal im Jahr während der Intimpflege belästigt, Frauen deutlich häufiger als Männer (71,2 % vs. 46,9 %). Gesellschaftlich wird dies kaum thematisiert.
Auch Ärztinnen sind von sexualisierter Gewalt betroffen
ARZT & WIRTSCHAFT wollte wissen, ob auch Ärztinnen Übergriffe dieser Art erleiden, beispielsweise bei Hausbesuchen. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) seien keine derartigen Fälle bekannt, schreibt deren Pressesprecher Roland Stahl auf Anfrage.
Der Deutsche Ärztinnenbund (DÄB) bietet explizit Hilfe für Betroffene sexualisierter Gewalt, kann aber aufgrund des Schutzes der Privatsphäre keine konkreten Beispiele nennen. Im Zuge unserer Recherche berichtete uns eine inzwischen niedergelassene Ärztin, dass ihr Chefarzt im Krankenhaus sie früher stets eng in den Arm genommen habe, um ihr Verschiedenes näher beizubringen. Sie habe das als junge Ärztin aber nicht als Belästigung wahrgenommen, schränkt sie ein. Es wirkte auf sie in ihrem Arbeitsumfeld normal.
Was gilt als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz?
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist jedes sexualisierte Verhalten, das von der betroffenen Person nicht erwünscht ist. Dazu zählen zum Beispiel verbale und physische Belästigungen, wie sexualisierte Sprüche, unerwünschte Berührungen oder heimliche Fotos sowie non-verbale Formen wie anzügliche Blicke oder das Zeigen pornografischer Bilder.
Sexualisierte Gewalt treffe alle Beteiligten in der medizinischen Versorgung, weiß der DÄB. Aus Klinikbereichen werde häufiger darüber berichtet als aus dem ambulanten Bereich. Scham und Unsicherheit verhindern jedoch häufig, dass Betroffene aktiv werden – „gerade wenn Vorgesetzte beteiligt sind beziehungsweise nichts dagegen unternehmen. Wir sind hier in einem hierarchischen System, in dem Beschwerden ungeahnte Folgen haben können“, so wird eine Ärztin anonym zitiert, die an einer entsprechenden Studie der Berliner Charité teilgenommen hat.
Hierarchie begünstigt Übergriffe und Schweigen
Die Berliner Charité erhob in der WPP-Studie („Watch-Protect-Prevent“) interne Prävalenzdaten und veröffentlichte diese 2019 im „JAMA Internal Medicine“. Sie zeigt: Sexualisierte Belästigung kennen die meisten Ärztinnen – aber auch Ärzte sind davon betroffen. Insgesamt berichteten 341 Ärztinnen (76 %) und 178 Ärzte (61,6 %) in der Studie über erlebte Belästigung und Fehlverhalten.
Erniedrigende oder obszöne Sprache war das häufigste Vergehen, gefolgt von sexualisierten Äußerungen und Anspielungen. Unerwünschte körperliche Berührungen wurden von 22 Prozent der befragten Ärztinnen und neun Prozent der befragten Ärzte berichtet. Grapschen und versuchte Küsse hatten drei Prozent der Ärztinnen und ein Prozent der Ärzte erlebt. Vorteile für sexuelle Gefälligkeiten wurden zwei Prozent der Ärztinnen und 0,7 Prozent der Ärzte angeboten. Einen sexuellen Übergriff hatten 0,45 Prozent der Ärztinnen und 0,69 Prozent der Ärzte erlebt.
Hier gibt es Hilfen für Ärztinnen oder Medizinstudentinnen
Landesärztekammern
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ - Tel.: 116 016
Antidiskriminierungsstelle des Bundes - Tel.: 030/185 551 855
Frauen gaben an, dass es sich bei den Tätern fast ausschließlich um Männer handelte. Kollegen wurden von Männern und Frauen in ähnlichem Maße als Haupttäter genannt, während Frauen häufiger Vorgesetzte als Täter nannten (37 % gegenüber 18 %). Eine starke Hierarchie erwies sich als struktureller Faktor, der signifikant mit Belästigung zusammenhing. 57 Prozent der Ärztinnen forderten klare Sanktionsverfahren, da Unsicherheit und Angst vor Konsequenzen oft dazu führen, dass Vorfälle nicht gemeldet werden. Die Charité ist dieser Forderung nachgekommen. Als erste deutsche Universitätsklinik hat sie umfassende Präventions- und Schutzmaßnahmen unter dem Motto „Null Toleranz für sexuelle Belästigung“ verabschiedet, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes als Best Practice anerkannt wurden.
Wie es im niedergelassenen Bereich aussieht
Zahlen für den niedergelassenen Bereich sucht man vergeblich, es fehlen die Studien. Doch aus den Geschichten, die hinter vorgehaltener Hand erzählt werden, lässt sich schließen: Auch im ambulanten Alltag sind Beschäftigte von sexualisierter Gewalt betroffen – ob durch Berührungen, Kommentare zum Dekolleté oder Fragen wie „Würden Sie mir beim Ausziehen helfen?“, obwohl der Patient selbst dazu fähig ist. Ignorieren oder gequältes Weglächeln helfen dann nicht. Besser sind klare Ansagen: „Lassen Sie das!“, „Ich will das nicht.“, „Hören Sie jetzt damit auf!“.
Wie Praxischefinnen und -chefs ihre Mitarbeitenden schützen können
Im Team sollte über solche Vorfälle gesprochen und sie sollten auch dokumentiert werden. Ein umfassendes Schutzkonzept sollte in allen Praxen Standard sein. Den MFA muss klar sein, dass sie sich im angemessenen Rahmen wehren können und sollten. Gegen übergriffige Patienten kann ein Hausverbot ausgesprochen werden. Wer am Arbeitsplatz sexualisierte Gewalt erlebt, hat ein Beschwerderecht sowie ein Leistungsverweigerungsrecht ohne Lohnverlust, sollte der Arbeitgeber keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen ergreifen, um die Belästigung zum Schutz der Mitarbeitenden zu unterbinden. Arbeitgeber dürfen Beschäftigte wegen der Inanspruchnahme dieser Rechte nicht benachteiligen (§ 16 AGG).
Gesetzliche Pflichten der Arbeitgeber
Gemäß den §§ 12, 13 des AGG sind Arbeitgebende im konkreten Belästigungsfall dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu veranlassen, um Belästigungen zu stoppen und künftig zu verhindern. Sexuelle Belästigung ist nach § 184i des Strafgesetzbuches (StGB) strafbar und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden. Die Strafverfolgung erfolgt auf Antrag.
Eine schriftliche „Vereinbarung zur Prävention sexualisiserter Gewalt“ sollte allen Mitarbeitenden zugänglich sein. Darin enthalten sind die Definition einer Belästigung, der rechtliche Rahmen und ein detaillierter Beschwerdeablauf. Bei Gewaltvorfällen am Arbeitsplatz benötigen Betroffene unmittelbar eine psychosoziale Notfallversorgung, wie die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) betont. Das beugt der Chronifizierung psychischer Traumata vor. Die Notfallversorgung sollte durch speziell geschulte Ansprechpartner erfolgen, die den Betroffenen emotionale Unterstützung bieten und zudem organisatorische Schritte einleiten. Unter Umständen ist eine psychotherapeutische Betreuung zur Verhinderung langfristiger psychischer Schäden angemessen.
Grundlegend ist, dem Praxisteam und den Patienten klar zu kommunizieren: Übergriffe werden nicht geduldet. Praxisinhaber und -inhaberinnen können sich wie die Charité mit dem Null-Toleranz-Prinzip klar positionieren.
Aufruf
Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie oder Mitglieder Ihres Teams auch sexualisierte Übergriffe erlebt und möchten Sie diese — bei Bedarf anonymisiert — schildern? Schreiben Sie uns an: melanie.hurst@medtrix.group