Überstunden in der Arztpraxis: Wann der Chef sie bezahlen muss – und wann nicht
Ina ReinschArbeiten ohne Honorar? Für viele MFA und angestellte Ärzte gehören lange Arbeitszeiten und unbezahlte Überstunden zum Alltag. Oft ist das sogar zulässig – es gibt aber auch etliche Fälle, in denen die Mehrarbeit in der Praxis zu vergüten ist. Was Arbeitnehmer und Arbeitgeber zum Thema Überstunden wissen müssen.
COVID-19, RSV, grippale Infekte –Krankheiten richten sich nicht danach, ob das Praxispersonal um 18 Uhr nach Hause möchte. Es gibt Zeiten, da ist das Wartezimmer kurz vor Ende der Sprechstunde noch gut gefüllt. Wer schon da ist, wird natürlich auch behandelt. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Mitarbeitenden leisten immer wieder Überstunden. In der aktuellen Erhebung aus dem Jahr 2018 lag die Wochenarbeitszeit für niedergelassene Hausärzte bei knapp 52 Stunden. Pro Tag behandelten sie im Schnitt 53 Patienten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen nach dem letzten Patienten häufig noch Verwaltungskram erledigen oder Behandlungsräume und Instrumente desinfizieren. Doch wann wird es für die Praxishelfer zu viel?
Unter Überstunden versteht man rechtlich die über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus geleisteten Arbeitsstunden. Wie viel etwa eine MFA vertraglich arbeiten muss, steht im jeweiligen Arbeitsvertrag. Überstunden müssen Mitarbeitende nur dann leisten, wenn sie laut Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung dazu verpflichtet sind. Was viele Praxisinhaber nicht wissen: Steht dort nichts drin, kann der Arbeitgeber Überstunden nicht einseitig anordnen. Nur in absoluten Notsituationen wie etwa einem Brand in der Praxis können Mitarbeitende ausnahmsweise auch ohne entsprechende Klausel zur Leistung von Überstunden verpflichtet sein. Ärzte sollten daher zunächst überprüfen, ob ihre Arbeitsverträge mit dem Praxispersonal eine Überstundenverpflichtung enthalten. Arbeitgeber sind inzwischen verpflichtet, ihren Mitarbeitenden die Regelungen zu den Überstunden schriftlich mitzuteilen.
Chefs müssen Regeln für Überstunden schriftlich fixieren
Zum August 2022 wurde das Nachweisgesetz geändert. Nach diesem Gesetz ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitnehmer einen schriftlichen Nachweis über die wesentlichen Vertragsbedingungen im Arbeitsvertrag auszuhändigen. Der Umfang dieser Nachweispflicht wurde 2022 erweitert. Das hat auch Auswirkungen auf die Überstundenregelung. Der Arbeitgeber muss nämlich nun unter anderem schriftlich festhalten und dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin aushändigen:
- die Information, dass Überstunden angeordnet werden können,
- die Voraussetzungen für das Ableisten von Überstunden sowie
- Angaben zur Überstundenvergütung.
Bei Beschäftigten, die vor dem 1. August 2022 eingestellt wurden, müssen Arbeitgeber die zusätzlichen Nachweise nur dann ergänzen, wenn der Mitarbeitende dies ausdrücklich verlangt.
Überstunden immer frühzeitig ankündigen
Die einzelnen Überstunden selbst ordnet der Arzt über das sogenannte Direktionsrecht an. Ist es also zulässig, dem Personal um 17 Uhr Bescheid zu sagen, dass es heute bis 19 Uhr arbeiten muss statt bis 18 Uhr? Damit die Mitarbeitenden sich auf die zusätzliche Arbeit einstellen können, muss der Chef die Überstunden rechtzeitig ankündigen. Eine Regelung, was unter rechtzeitig zu verstehen ist, gibt es allerdings nicht. Viele Beschäftigte haben nach der Arbeit noch Verpflichtungen, müssen zum Beispiel Kinder aus der Kita abholen oder kranke Angehörige versorgen – und können nicht spontan länger bleiben. Daher gilt, dass Praxisinhaber so früh wie möglich Bescheid sagen müssen.
Umgekehrt gibt es auch MFA, die von sich aus erst dann gehen, wenn die Arbeit des Tages erledigt ist, und sei es um 20 Uhr. Allerdings sollten Ärztinnen und Ärzte vorsichtig sein, Überstunden ihrer Mitarbeitenden einfach stillschweigend zu tolerieren, so lobenswert deren Arbeitseinsatz auch sein mag. Denn rechtlich gesehen ist es dasselbe, ob ein Chef Überstunden explizit anordnet oder sie billigt beziehungsweise duldet. Für ein Billigen genügt es aus rechtlicher Sicht, dass der Vorgesetzte zu erkennen gibt, mit der bereits geleisteten zusätzlichen Arbeitszeit einverstanden zu sein. Das kann auch stillschweigend geschehen. Von „dulden“ spricht man, wenn der Arbeitgeber die Leistung hinnimmt und für die Zukunft keine Vorkehrungen trifft, um weitere Überstunden zu unterbinden, sie vielmehr auch weiterhin entgegennimmt. Das setzt zumindest voraus, dass der Praxisinhaber oder die -inhaberin von den Überstunden weiß.
In einigen Fällen können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arztpraxis Überstunden trotz grundsätzlicher Verpflichtung aber verweigern:
- Geht die Arbeitszeit über das gesetzlich zulässige Maß hinaus, kann der Arbeitnehmer sie ablehnen.
- Der Arbeitnehmer darf aus persönlichen Gründen ablehnen, zum Beispiel dann, wenn er sein Kind bis 17 Uhr aus der Kita abholen muss. Ein geplanter Bowlingabend mit Freunden dürfte jedoch nicht so schwer wiegen.
Nicht immer müssen Überstunden bezahlt werden
Ist die Frage geklärt, ob die oder der Mitarbeitende Überstunden leisten muss, gibt es anschließend häufig Streit um die Bezahlung. Sieht der Arbeitsvertrag die Bezahlung vor, heißt die klare Antwort: Sie müssen entlohnt werden. Steht nichts im Vertrag, wird es komplizierter: Die Vergütungspflicht richtet sich dann nach § 612 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Danach gilt eine Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.
Bei Arbeitnehmern, deren Gehalt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung überschreitet, ist eine gesonderte Vergütung von Überstunden nicht zu erwarten, sagt das Bundesarbeitsgericht (BAG). Das sind seit dem 1. Januar 2023 7.100 Euro brutto im Monat (Ost) bzw. 7.300 Euro (West). Wer weniger verdient, darf erwarten, für Mehrarbeit extra bezahlt zu werden – was bei MFA in der Regel der Fall sein dürfte. Bezahlt werden muss eine Überstunde mit dem üblichen Stundenlohn. Der Praxisinhaber kann allerdings auch entscheiden, dass er für die geleistete Mehrarbeit einen Freizeitausgleich gewährt, solange es keine anderweitige Regelung gibt.
Wer muss was beweisen?
Kommt es wegen der Bezahlung von Überstunden zum Streit, entscheidet über den Erfolg einer Klage häufig die Frage, wer was beweisen muss. Grundsätzlich ist der Praxismitarbeiter für die Überstunden voll beweispflichtig. Das heißt, er muss für jede einzelne Überstunde darlegen und gegebenenfalls beweisen,
- wann er sie geleistet hat und
- dass sie vom Arzt angeordnet war beziehungsweise gebilligt oder geduldet wurde.
Das Bundesarbeitsgericht hat am 13. September 2022 aber entschieden, dass die Erfassung der Arbeitszeit für Arbeitgeber in Deutschland Pflicht ist — auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung (Az. 1 ABR 21/22). Arbeitgeber müssen daher die Arbeitszeiten ihrer Angestellten dokumentieren. Damit sind sie auch verpflichtet, Überstunden zu erfassen.
Wenn ein Arbeitgeber aber ohnehin verpflichtet ist, jede Arbeitsstunde aufzuzeichnen, kann er hinterher kaum mehr bestreiten, dass er die Überstunden gekannt und geduldet hat — so könnte man argumentieren.
Ob sich damit im deutschen Recht nun die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für Überstunden ändert, ist derzeit unklar. Es wäre möglich, dass Arbeitnehmer die Bezahlung von Überstunden künftig leichter einfordern könnten.
Abgeltungsklauseln sind nicht immer wirksam
Viele Chefs versuchen, die Bezahlung von Überstunden mit einer sogenannten Abgeltungsklausel im Arbeitsvertrag ausschließen. Das ist möglich, doch Praxisinhaber sollten dabei genau hinsehen: Eine pauschale Abgeltung aller Überstunden ist nämlich unwirksam. Das hat das BAG entschieden. Die häufig verwendete Formulierung „Erforderliche Überstunden sind mit dem Monatsgehalt abgegolten“ ist daher unzulässig. Abgeltungsklauseln gelten nur dann als wirksam vereinbart, wenn sie klar und verständlich formuliert sind und sich aus dem Arbeitsvertrag selbst ergibt, welche Arbeitsleistungen in welchem zeitlichen Umfang von ihnen erfasst werden sollen. Der Arbeitnehmer muss also bereits bei Vertragsschluss erkennen können, was auf ihn zukommt und welche Leistungen er für die vereinbarte Vergütung maximal erbringen muss.
Eine Regelung, die vorsieht, dass bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden die ersten 20 Überstunden im Monat in der vereinbarten Vergütung mit drin sind, hat das BAG aber schon für zulässig erachtet.