Nutzloses Börsen-Horoskop oder seriöse Anlagestrategie?
A&W RedaktionFür die einen ist es Kaffeesatz-Leserei, für die anderen eine seriöse Anlagestrategie: Die Charttechnik bzw. die technische Analyse sind unter Investoren seit Jahrzehnten umstritten. Ihre Anhänger, unter ihnen viele Ärzte, wollen mit Hilfe von Kursmustern und Indikatoren die künftige Entwicklung von Aktien und anderen Wertpapieren bestimmen. Sie sind überzeugt: Alle zugänglichen Informationen sind bereits im Kurs eines Wertpapiers enthalten – auf weitere Analysen, etwa von Geschäftsberichten, kann deshalb verzichtet werden.
Diese Ansicht teilen nicht viele Geldmanager. Anton Vetter von der BV & P Vermögen AG in Kempten (Allgäu) etwa verwendet die Charttechnik stets in Verbindung mit fundamentaler Analyse. Zuerst will er die Werthaltigkeit einer Aktie etwa anhand des Gewinn- und Umsatzwachstums eines Unternehmens ermitteln. Erst wenn klar ist, ob eine Aktie gekauft werden soll, steht für den unabhängigen Vermögensverwalter die Frage an: Wann kaufe ich? In dieser Hinsicht ist die technische Analyse bzw. Charttechnik für Vetter aber durchaus nützlich: „Sie ist schnell anwendbar und liefert oft qualitativ gute Prognosen – womöglich auch, weil sich immer mehr Investoren daran orientieren“, sagt der Vermögensverwalter.
Gold: Der Trend ist das wichtigste Instrument
Auch Ingo Schweitzer von der AnCeKa Vermögensbetreuungs AG sieht Vorteile in der Chartanalyse. Der Finanzprofi aus Kaufbeuren schätzt vor allem, dass sich so schnell eine der Kardinalfragen der Geldanlage beantworten lässt: Wohin geht der Trend (siehe „Chart-ABC“)? Wie wichtig die Beachtung des längerfristigen Trends ist, zeigt der Kursverlauf von Gold. Von 1980 bis 2001 befand sich das Edelmetall in einem Abwärtstrend, dargestellt durch die rote Linie (siehe Chart „The Trend is your friend“). Wer bereits 1993 Gold kaufte, weil es die rote Linie überwunden hatte, saß ein paar Jahre später auf Verlusten von bis zu 40 Prozent. „Erst 2001 bzw. 2002 begann das Edelmetall einen Aufwärtstrend, der Anfang 2013 endete“, so Schweitzer (grüner Kanal). In diesen elf Jahren verfünffachte sich der Kurs für all diejenigen, die den Signalen folgten.
Charttechnik basiert auf Massenpsychologie
Das Gold-Beispiel illustriert zwei wichtige Punkte im Umgang mit der technischen Analyse. Zum einen müssen Anleger konsequent den Signalen folgen und Meinungen, die sie etwa aus den Medien aufnehmen, ignorieren – das gelingt aber längst nicht jedem. Zum anderen sollten sie bereit sein, (kleinere) Verluste hinzunehmen, wenn sich ein Kaufsignal wie bei Gold 1993 als Fehler entpuppt – „das schaffen noch viel weniger Investoren“, so Anton Vetter. Hintergrund ist die sogenannte Verlust-Aversion, über die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman geforscht hat. „Demnach empfinden Menschen einen finanziellen Verlust als doppelt so schwer wie einen gleich hohen Gewinn“, weiß Vetter. Folge: Sie weigern sich, die Aktie oder den Fonds mit Verlust zu verkaufen und hoffen, dass sich das Investment erholen wird.
Der DAX nahm drei Mal Anlauf
Diese „psychologische Fehlkonstruktion“, die von Natur aus fast alle Menschen teilen, ist die Basis für zwei wichtige Muster, die emotional gefestigte Investoren nutzen können (siehe Chart „DAX nimmt drei Mal Anlauf“): Widerstand und Unterstützung. Als der DAX 2007 mit gut 8.000 Zählern das Niveau vom Hoch aus dem Jahr 2000 erreichte, bekamen die Anleger kalte Füße – „vermutlich waren viele darunter, die 1999 gekauft hatten und die Chance sahen, ohne Verlust auszusteigen“, so Schweitzer. Aus Sicht der Charttechnik entstand dadurch ein Widerstand.
Nach dem Crash 2008/09 ging es erneut bergauf, bis die Euro-Krise den DAX – knapp unterhalb der bisherigen Hochpunkte! – in den Keller schickte. im Frühjahr/Sommer 2013 gelang dann, woran kaum noch einer glaubte: Der DAX brach über den inzwischen 13 Jahre alten Widerstand aus und stieg in zwei Jahren um knapp 50 Prozent. Im Anschluss daran gab der Index um rund 3.000 Punkte nach, fiel jedoch nicht mehr unter das Ausbruchsniveau von 2013. „Als der Index im zweiten Halbjahr 2016 stark nach oben drehte, verwandelte sich dieser frühere Widerstand in eine Unterstützung, die vermutlich sehr lange Zeit halten wird“, erklärt Anton Vetter.
Fazit aus Sicht beider Vermögensverwalter: Die Charttechnik bzw. die technische Analyse ist nicht der Weisheit letzter Schluss und auch nicht ohne Fehlsignale. Sie liefert aber in vieler Hinsicht hilfreiche Erkenntnisse und sollte bei der Analyse von Aktien, Anleihen, Indizes, Rohstoffen und Währungen ebenso wenig fehlen wie die fundamentale Analyse
ABC der Chartanalyse: Diese 10 Dinge sollten Anleger wissen
Annahmen für die Analyse: Charttechniker wie auch technische Analysten gehen davon aus, dass alle zur Analyse notwendigen Informationen in den Kursen enthalten sind. Zudem nehmen sie an, dass sich daraus die wahrscheinliche Kursentwicklung der Zukunft ableiten lässt.
Charttechnik
Charttechnik beschäftigt sich vorrangig mit Kursmustern. Diese lassen sich unterscheiden in Fortsetzungsformationen (Flaggen, Wimpel) und Umkehrformationen (Schulter-Kopf-Schulter).
Gleitender Durchschnitt
Gleitender Durchschnitt wird gebildet aus den Kursen der zurückliegenden x Tage. Kommt ein neuer Tag hinzu, fällt der älteste Tag aus der Berechnung heraus. Beliebt ist der 200-Tage-Durchschnitt: Liegen die Kurse darüber, sprechen viele Anleger von einem längerfristigen Aufwärtstrend. Im umgekehrten Fall liegt oft ein Abwärtstrend vor.
Schulter-Kopf-Schulter (SKS)
Diese Umkehrformation mit drei Hochpunkten nach Aufwärtstrends kommt bei vielen Trendwechseln vor und gilt als zuverlässig. Dabei ist der Kopf als mittleres Hoch höher als die zwei beiderseitigen Hochs, die als Schultern bezeichnet werden. Bestätigt wird diese Umkehr, wenn der Kurs die Nackenlinie durchbricht – diese Linie ergibt sich durch Verbindung der unteren Punkte der beiden Schultern und des Kopfes. Beim Abwärtstrend funktioniert das Ganze spiegelbildlich.
Technische Analyse: legt den Akzent neben den Mustern auf Indikatoren, die aus dem Preis und/oder dem Umsatz eines Wertpapiers abgeleitet werden (etwa MACD, RSI). Indikatoren können frühzeitiger einen Trendwechsel ankündigen als Kursmuster.
Trend: Ein Aufwärtstrend ist definiert als Folge höherer Hochpunkte und höherer Tiefpunkte, ein Abwärtstrend als Folge tieferer Hochs und tieferer Tiefs. Ein Aufwärtstrend auf einer höheren Zeitebene (etwa Monate) kann unterbrochen werden von einem Abwärtstrend auf Tagesebene.
Trendkanal: existiert, wenn sich die Hoch- und Tiefpunkte eines Trends durch zwei parallele Linien verbinden lassen. Wird beim Aufwärtstrend der Kanal nach oben durchstoßen, deutet dies auf künftig stark steigende Kurse hin. Bricht beim Abwärtstrend der Kurs aus dem Kanal nach unten aus, ist mit heftigen Kurseinbrüchen zu rechnen (s. Chart „The trend is your friend“).
Unterstützung: Bricht der Kurs durch einen Widerstand nach oben aus und fällt danach trotz Kursrückgang nicht mehr unter diese Marke zurück, wird der Widerstand zur Unterstützung – so etwa beim DAX im Jahr 2013 (s. Chart „DAX nimmt drei Mal Anlauf“).
V-Formation: In diesem Fall erfolgt der Trendwechsel in kurzer Zeit, sodass der Kurs wie in einem V (nach einem Abwärtstrend) nach oben schießt – und nicht, wie bei der SKS, länger für den Wechsel braucht. V-Formationen kommen bei Rohstoffen häufiger vor als bei Aktien, Anleihen oder Währungen.
Widerstand: Ein Widerstand lässt sich frühestens dann erkennen, wenn es dem Kurs eines Wertpapiers zum zweiten Mal nicht gelingt, über eine bestimmte Marke hinauszukommen. Der Widerstand bildet sich, weil über dem aktuellen Kurs der Verkaufsdruck stärker ist als der Kaufdruck (s. Chart „DAX nimmt drei Mal Anlauf“).