Wie Corona die Digitalisierung beschleunigt hat
Marzena SickingBereits Mitte 2020 wurden 1,4 Millionen Videosprechstunden verzeichnet – im Jahr zuvor waren es noch knapp 3.000. Das PKV Institut nahm die Entwicklung zum Anlass, um Praxisleitungen, MFAs und ZFAs zu befragen: Hat Corona die Digitalisierung in Arzt- und Zahnarztpraxen beschleunigt?
„Ja und Nein“, sagt etwa Praxismanagerin Marie Holtzsch: „Für Praxen, die schon immer technikaffin waren, hat die Pandemie die Digitalisierung tatsächlich beschleunigt, etwa durch staatliche Subventionen oder neue Softwarelösungen auf dem Markt. Wer der Digitalisierung aber schon immer skeptisch oder ablehnend gegenüberstand, ändert das nicht wegen Corona.“ Auch laut Online-Umfrage des PKV Instituts zum Thema war ein Umdenken seit Corona bei lediglich 7 Prozent der befragten Praxen festzustellen.
Immerhin etwa 18 Prozent haben in der Corona-Pandemie die Videosprechstunde neu eingeführt. Insgesamt stehen sowohl Praxisleitungen (58 %) als auch MFAs bzw. ZFAs (66 %) der Digitalisierung mehrheitlich aufgeschlossen gegenüber. Jedoch setzen vergleichsweise wenige Praxen Digitalisierungsmaßnahmen wie Videosprechstunden (21 %), digitale Gesundheitsanwendungen (7 %), Online-Terminvergabe (26 %) oder Telearbeit (20 %) konsequent um. Dass Investitionen in Digitalisierung vielen schwerfallen, kann Marie Holtzsch durchaus verstehen: „Die Vorteile gelungener Digitalisierung erkennt man erst, wenn man sie selbst erlebt.
Videosprechstunde als Service
In dieser glücklichen Lage ist die Zahnarztpraxis von Sirid Kulka in Leipzig, die eigentlich schon lange vor Corona eine Videosprechstunde als Option einführen wollte: „Es gab keinen Anbieter auf dem Markt, aber mit der durch Corona bedingten Subventionspolitik explodierte die Zahl“, so die Zahnärztin. Sie führt Anamnese- und Aufklärungsgespräche inzwischen in aller Regel per Videosprechstunde mit einer cloudbasierten Lösung.
„In der Pandemie war es dringend geboten, Patientendurchlauf und Anzahl der anwesenden Personen in der Praxis zu reduzieren“, erklärt Kulka. Durch die Neuerung, die ohne großen finanziellen Aufwand möglich war, kann sie zudem ihren Tag besser planen, Behandlungstermine mit ihrem Team zielgenauer vorbereiten, den Behandlungsstuhl optimal auslasten und sich zugleich mehr Zeit für den einzelnen Patienten nehmen. Das Angebot kommt sehr gut an: „Unsere Patienten sparen sich Zeit und teils unnötige Wege. Die meisten empfinden die Videosprechstunde als Service.“
Anfänglicher Mehraufwand verschafft langfristig Zeitgewinn
Kulka hat die Digitalisierung in ihrer Praxis selbst vorangetrieben. Die Praxisleitung müsse selbst dahinterstehen, erklärt die Zahnärztin. Sie arbeitet schon seit 2011 ohne Karteikarten. So sieht es auch MFA Marie Holtzsch. Digitalisierung könne aus ihrer Sicht nur dann gelingen, wenn es eine treibende Kraft in der Praxis gibt. Das kann die Praxisleitung oder eine MFA bzw. ZFA sein. Die Praxisleitung muss dahinterstehen und die Bereitschaft zeigen, Zeit und Geld sowie anfängliche Mehrarbeit zu investieren. „Digitalisierung ist ein Prozess und bedeutet immer zunächst Mehraufwand. Daraus darf man keinen Hehl machen. Man muss Bedenken und Sorgen von Praxisleitung und Praxisteam ernst nehmen und ein Tempo wählen, in dem man alle mitnehmen kann.“ Verbesserte Wirtschaftlichkeit und die leichtere Beherrschung der wachsenden bürokratischen Anforderungen überzeugten letztlich jeden im Team. „Am schönsten ist es aber für Ärztinnen und Ärzte, MFAs und ZFAs, zu sehen, dass sie Zeit gewinnen – auch mehr Zeit für den einzelnen Patienten.“
Von der Politik erhofft sie sich mehr Aufklärung und mehr Unterstützung beim Thema: „Digitalisierung in den Praxen ist unausweichlich. Aber ich beobachte, dass manche Ärzte lieber früher in Rente gehen, als ihre Praxis zu digitalisieren. Eine besorgniserregende Entwicklung, vor allem in Regionen, in denen es ohnehin schon an Ärzten mangelt.“
Digitalisierung braucht mündige Patienten
Vor Aktionismus und planlosen Investitionen in Digitalisierung warnt Stefanie Correia, ausgebildete ZFA und Praxismanagerin: „Jede Praxis ist anders. Man muss die eigenen Prozesse beleuchten, Pain Points identifizieren und so erkennbar machen, an welchen Stellen Digitalisierung die eigene Arbeit tatsächlich erleichtern kann. Viele Praxen sind digital weit vorn, bieten aber keine Online-Terminvergabe, etwa weil es nicht zu ihrem Prozess der Behandlungsvorbereitung passt.“ Externe Beratung in die Praxis zu holen, könne dabei durchaus sinnvoll sein. Denn viele Praxen wüssten nicht einmal, ob und wie oft ein Backup ihrer Daten stattfindet, ob dieses DSGVO-konform ist etc.: „Viele haben nicht mal einen festen und durchgehend erreichbaren Ansprechpartner für die IT.“ Praxisleitungen tun ihrer Ansicht nach gut daran, technikaffine Teammitglieder zu fördern, die sich in Systembetreuung, Datenschutz und ähnlichen Richtungen weiterentwickeln wollen: „So schafft man eine wertvolle Schnittstelle, die die Anforderungen aus der Praxis kontinuierlich mit der IT in Passung bringen kann.“
Statt teurer Hard- und Software sieht sie die Zukunft in cloudbasierten Lösungen. Die Datenschutzbedenken vieler Skeptiker kann sie nachvollziehen. Sie verweist jedoch auf die Vorteile, die etwa Datenverfügbarkeit in der Notfallmedizin hat: „Der Nutzen ist aus meiner Sicht höher als die Gefahr.“ Zudem hätten Patienten etwa bei der elektronischen Gesundheitsakte die Option, ihre Daten selektiv zur Verfügung zu stellen. Hier wünscht sich Correia mehr Unterstützung durch die Politik: „Digitalisierung braucht mündige Patienten, aber die zugehörige Aufklärungsarbeit darf nicht allein an den Praxen hängen.“