Expertentipps für Ärzte und Ärztinnen: Wege aus der Erschöpfung
A&W RedaktionDie Corona-Pandemie hat den Stress-Level vieler Ärzte und Ärztinnen in erheblichem Maß erhöht. Dr. med. Franz Sperlich* erlebt die Ursachen dafür in seiner Praxis tagtäglich selbst. Auf Basis seiner Forschungen zu Aufmerksamkeit und Emotionen hilft er betroffenen Kollegen und Kolleginnen.
Der Stresslevel der Deutschen ist angestiegen
Bereits im Januar 2021 hat eine repräsentative Umfrage der pronova BKK ergeben, dass mehr als die Hälfte der Deutschen große Angst aufgrund der Pandemie empfindet, ein weiteres Drittel zeigte sich besorgt.
Eine repräsentative Umfrage der Techniker Krankenkasse von Ende 2021 zeigt, dass sich fast zwei von drei Menschen in Deutschland (64 Prozent) mindestens manchmal gestresst fühlen. Mehr als ein Viertel sogar häufig (26 Prozent). Auf die Frage, ob ihr Leben seit Beginn der Pandemie stressiger geworden ist, antwortet rund die Hälfte der Befragten mit Ja (47 Prozent).
Besondere Belastung bei Medizinern
Eine Berufsgruppe, die besonders unter dieser starken Zunahme von Stress in der Gesellschaft leidet, sind Mediziner: Während des letzten Lockdowns untersuchte eine Studie im Auftrag eines IT-Konzerns die Auswirkungen von Überlastung und Burnout im Gesundheitswesen in zehn Ländern. In Deutschland gaben 48 Prozent der Teilnehmer an, dass die Pandemie ihre Überlastungssymptome verschlimmert habe.
Wie dramatisch die Situation ist, wird auch in einer aktuellen Erhebung des Marburger Bunds sichtbar: Ein Drittel der jungen Medizinerinnen und Mediziner denken nach dem erfolgreichen Studium ans Aufgeben.
Die enorme Zunahme tagtäglicher rationaler und emotionaler Entscheidungen überlastet uns
Der Lilienthaler Arzt Dr. Franz Sperlich kennt die Probleme aus eigener Erfahrung und fasst die verschiedenen Faktoren für die gestiegene Belastung zusammen: „Ein großes Problem ist die Vielzahl der täglichen Entscheidungen. Die Anzahl an Entscheidungen, die täglich getroffen werden können, hat eine biologische Grenze. Als Arzt/Ärztin kümmert man sich um viele Bereiche und alle sind im Rahmen der Pandemie komplexer und aufwändiger geworden.“
Konkret geht es laut Sperlich bei Ärzten und Ärztinnen um folgende drei Bereiche:
Was Ärzte und Ärztinnen überlastet
INFRASTRUKTUR und FÜHRUNG: Das Wissen sowohl im medizinischen wie auch im berufsrechtlichen und operativen Bereich wächst schneller denn je und muss ins tägliche Tun integriert werden. In diesen Bereich fallen auch die komplexer gewordenen Führungsaufgaben und das nervenaufreibende Chaos bei der Digitalisierung im medizinischen Bereich.
PATIENTENKONTAKT: Die eigentliche Aufgabe der Ärzteschaft ist die Arbeit am Patienten. Hier hat die Pandemie die Frequenz an Kontakten deutlich erhöht, vor allem an Telefonaten und für viele auch bei ganz neuen Formen der Konsultation, wie den Videosprechstunden. Der gestiegene Angst- und Stresslevel in der Bevölkerung hat diese Kontakte häufig emotional aufgeladen, da Fragen und Beratungen komplexer geworden sind. „Zum Beispiel gab es in meiner Praxis über Monate hinweg einen enormen Beratungsbedarf zu den neuen Impfstoffen“, so Sperlich.
PERSÖNLICHE SITUATION: Jeder Arzt/jede Ärztin war und ist auch als Privatperson selbst von der Pandemie betroffen. Gefährdete Angehörige, Mehrbelastung durch Home-Schooling der Kinder, Homeoffice der Partner, eigene Ängste und Sorgen zu Ansteckung und vielleicht auch Sinnfragen zu einigen der Corona-Maßnahmen erhöh(t)en die subjektive Belastung.
„Alle Bereiche erfordern also mehr Entscheidungen und dies führt zu einer als Ich-Erschöpfung (Ego-Depletion) bekannten Situation. Es wird immer schwieriger Entscheidungen zu treffen, Gereiztheit und Rückzug sind oft die Folge, es entsteht eine Abwärtsspirale, die nun nach fast drei Jahren Pandemie immer deutlicher wird“, zieht Dr Sperlich Bilanz.
„Spätestens wenn einem der vorher erfüllende Beruf keinen Spaß mehr macht, sollte man handeln. Oftmals kommt eine solche Erkenntnis von außen: Das Praxisteam spiegelt einem die eigene Gereiztheit, Freunde oder Partner teilen einem mit, dass sie sich Sorgen machen.“
Was tun, um die Selbstsorge zu starten?
Wenn man es in einem Wort zusammenfasst, dann geht es um die „Selbstsorge“. Wegweiser sind die eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Leider ist das leichter gesagt als getan, denn im ersten Moment erfordert Selbstsorge ja weitere Entscheidungen und genau da liegt die Erschöpfung der Ego-Depletion.
Also braucht man ein schrittweises Vorgehen. Dazu Dr. Sperlich:
Die wichtigsten Tipps von Dr. Sperlich an die ärztlichen Kollegen
Für die Kollegen und Kolleginnen, die ich berate, hat sich folgendes Schema bewährt:
1) Hinschauen und Annehmen. „Ja, ich bin gereizt, ja, ich bin erschöpft.“ Wenn ich das denken und sagen kann, ohne mich dafür zu verurteilen, ist der erste Schritt geschafft.
2) Das genaue Klären der Frage „Was treibt mich?“. Auch hier ist Ehrlichkeit zu sich selbst entscheidend, Antworten wie „Einer muss es ja machen“ zählen nicht, vielmehr geht es um die Frage: Wogegen kämpfe ich? Dies deckt rasch die größten Energieräuber auf!
3) Interessanterweise liefert eine kleine Veränderung der Fragestellung oftmals neue und konstruktivere Antworten, die uns helfen, aus den eingetretenen und erschöpfenden Mustern auszusteigen. Die Erweiterung der Frage lautet: Wenn ich mein Ziel nicht durch einen Kampf gegen etwas beschreiben würde, sondern einen Einsatz für etwas: Was konkret wäre dieses „etwas“? Dieses Vorgehen erlaubt es, neue Strategien zu entwickeln. (Weitere Tipps finden Sie unter www.mental-vital-wirksam.de).
Durch Coaching wieder zu sich selbst gefunden
Sperlich: „Vor 15 Jahren war ich selbst in einer beruflich und privat schwierigen Situation. Durch Zufall lernte ich in dieser Zeit einen Coach aus dem Profisportbereich kennen. Mit seiner Hilfe gelang es mir, mich Schritt für Schritt neu auszurichten. Die Art und Weise, wie dieser Coach mit mir arbeitete war für mich faszinierend, vor allem, weil er sich auf meine Stärken konzentrierte und nicht auf die auf mich so überbordend wirkenden Probleme. Ich habe viel für mich daraus gelernt. Als sich die größten Wogen gelegt hatten, habe ich mich selbst intensiv mit Coachingverfahren beschäftigt und meine eigene Methodik, das Narrative Mentoring entwickelt.
Für mich war es ein guter Weg, und viele Kolleg:innen, die ich in den vergangenen Jahren in diesem Bereich begleiten durfte, haben mir im Nachhinein Ähnliches berichtet. Schließlich haben wir trotz aller Hürden einen großartigen Beruf, der sehr erfüllend ist, wenn wir uns selbst dabei nicht aus den Augen verlieren.“
*Über Dr. Franz Sperlich: Dr. med. Franz Sperlich arbeitet als Arzt für Allgemeinmedizin in seiner Praxis für Integrative Medizin in Lilienthal bei Bremen. Er hat im Bereich Cognitive Science in den USA geforscht und in diesem Bereich promoviert. Im Rahmen des Studiengangs Komplementäre Medizin-Kulturwissenschaften-Heilkunde hat er das Narrative Mentoring entwickelt. Seit vielen Jahren ist er als wissenschaftlicher Beirat, Autor und Trainer aktiv und hält Vorträge zu den Themen Gehirn, Emotionen und gesunde Selbstführung. Weitere Informationen unter: www.dr-sperlich-consulting.de und www.mental-vital-wirksam.de