Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Medizin

Besonders klar sind hier die ethischen Richtlinien der American Medical Association (AMA), der Australian Medical Association und der Canadian Medical Association. Sie empfehlen Ärzten, nicht als allgemeiner oder regelmäßiger Betreuer von Familienmitgliedern zu fungieren – außer es handelt sich um eine Ausnahmesituation. Der AMA-Ethikkodex beispielsweise gebietet es Ärzten ausdrücklich, nicht sich selbst oder Familienangehörige zu behandeln, da sonst die Objektivität und Patientenautonomie gefährdet sein können. Nur unter bestimmten Umständen, wie zum Beispiel in Notfällen, in denen kein anderer Arzt da ist, empfiehlt die AMA die Behandlung von Familie, Freunden oder sich selbst.

Aus welchen Gründen sich Ärzte für oder gegen eine Behandlung entscheiden

Aber welche Gründe bewegen Ärztinnen und Ärzte, sich für oder gegen eine Behandlung von Familienangehörigen und Freunden zu entscheiden? Eine systematische Übersichtsarbeit der Medizinischen Hochschule Hannover ermittelte vor Kurzem, wie diese Frage in der veröffentlichten Literatur dargestellt wird. Insgesamt untersuchte ein Team um Studienleiterin Francisca Beigel 76 Veröffentlichungen von 1962 bis 2020 auf Gründe, die für oder gegen die Behandlung von Angehörigen sprechen. Während viele Publikationen eine neutrale Position einnehmen, äußert ein weiterer großer Teil Bedenken bezüglich der Versorgung von Familie und Freunden. Mehrere Autoren kritisieren auch eine zu geringe Hilfestellung durch ethische Leitlinien.

Wie die Forschenden herausfanden, behandeln Ärztinnen und Ärzte ihre Familienangehörigen und Freunde, weil sie der Überzeugung sind, ihnen so die beste Versorgung bieten und sie vor medizinischen Fehlern anderer Ärzte schützen zu können. Aber auch Bequemlichkeit und Erreichbarkeit für den Verwandten- oder Freundespatienten sind entscheidende Argumente für die persönliche Behandlung. Als weitere Gründe werden ein hohes Vertrauen in den Arzt, die persönliche Betreuung, eine Vorzugsbehandlung und zusätzliche Bemühungen vonseiten des Arztes genannt. Häufig fällt aber auch der Kostenaspekt.

Was gegen die Behandlung von Freunden und Familie spricht

Auf der Kontra-Seite hingegen fanden die Hannoveraner vor allem folgende Kritikpunkte: Hohes Risiko, dass die ärztliche Schweigepflicht verletzt wird, das Fehlen einer Einverständniserklärung und die Gefährdung der Patientenautonomie. Auch der Rollenkonflikt zwischen der Position eines Familienmitglieds oder Freundes und der des Arztes ist erheblich. Es wird auch eine negative Auswirkung auf die persönliche Beziehung beider Parteien befürchtet sowie eine beeinträchtigte medizinische Versorgung. In den untersuchten Publikationen finden sich dazu Argumente, die beispielsweise von einer inkonsequenten oder unangemessenen körperlichen Untersuchung bis hin zu einer übermäßigen oder unzureichenden Therapie reichen.

So erstaunt es nicht, dass der bei Weitem am häufigsten genannte Grund gegen die Behandlung durch einen verwandten oder befreundeten Arzt die Sorge um mangelnde Objektivität bei der Ausübung ist.

Es werden allerdings auch Bedingungen erwähnt, unter denen das Behandeln von Verwandten und Freunden als angemessen erachtet wird. Dazu zählen Notfälle, Situationen, in denen keine anderen Ärzte verfügbar sind, und das Behandeln kleinerer Beschwerden.

Es gibt noch keine allgemeingültige Antwort auf das moralische Problem

In Anbetracht dieser sehr unterschiedlichen Gründe für oder gegen eine Behandlung von Angehörigen bleibt am Ende die Frage offen, inwieweit sie legitim ist. Denn die Auswertung zeigt viele mögliche Herangehensweisen an das Thema: Einige Autoren waren froh, einen geliebten Menschen behandelt zu haben und behandeln weiterhin Angehörige und Freunde, während andere negative Ergebnisse befürchten.

In ihrem Resümee kommen die Studienautoren daher zu dem Schluss, dass keine allgemeingültige Antwort auf dieses moralische Problem zu finden ist. Zu verschieden sind die Umstände, unter denen Ärztinnen und Ärzte ihre Familie und Freunde behandeln. Sie fordern daher weitere Studien, um diese Problematik noch tiefergehend zu erforschen.