Wann die Kassen auch neuartige Behandlungsmethoden zahlen müssen
Judith MeisterDie gesetzliche Krankenversicherung kommt im Normalfall nur für Therapien auf, die dem medizinischen Standard entsprechen. In Ausnahmefällen müssen AOK & Co. aber auch für Neulandmethoden zahlen. Das hat das Bundessozialgericht entschieden. Was das Urteil bedeutet und warum weitere Gerichtsverfahren trotzdem wahrscheinlich sind.
Gesetzlich krankenversicherte Patienten können grundsätzlich nur solche Leistungen von ihrer Krankenversicherung verlangen, die “ausreichend” und “bedarfsgerecht” sind und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Welche Leistungen diese Kriterien erfüllen, konkretisiert der Gemeinsamen Bundesausschuss in verbindlichen Richtlinien. Eigentlich.
Denn unter bestimmten Voraussetzungen kann auch eine innovative Behandlungsmethode eine Alternative sein, die die Kasse bezahlen muss. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) in einem aktuellen Urteil entschieden (B 1 KR 33/21 R). Es wurde definiert, welche Anforderungen zu stellen sind, damit ein Krankenhaus die Leistung bei der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen darf.
BSG präzisiert Anforderungen an innovative Behandlungsalternativen
Im konkreten Fall ging es um einen Mann, der an einer schwergradigen chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung mit funktional relevantem Lungenemphysem litt. Hinzu kam eine respiratorische hypoxische Insuffizienz unter körperlicher Belastung. Im Rahmen einer stationären Behandlung wurden dem Patienten endoskopisch Metallspiralen (sog. Coils) in die Lunge implantiert, um die Emphysem-Blasen zu reduzieren. Dafür berechnete das Krankenhaus der Krankenkasse rund 31.300 Euro.
Diese erstattete jedoch nur rund 3.100 Euro, da die besagte Behandlungsmethode nicht dem Qualitätsgebot entsprochen habe. Der Fall wurde streitig.
Unterschiedliche Auffassungen der Instanzgerichte
Die erste Instanz entschied zugunsten des Klinikträgers, im Berufungsverfahren wies das Landessozialgericht (LSG) dessen Klage ab. Nun musste das BSG entscheiden. Insbesondere ging es um die Einlassung der Krankenhausvertreter, wonach das Potenzial der angewandten Behandlungsmethode den beteiligten Fachkreisen schon seit 2016 bekannt sei.
Das BSG verwies den Fall zwar wegen fehlender Sachverhaltsfeststellungen an die Vorinstanz zurück. Jedoch formulierten die Kasseler Richter klare Anforderungen daran, wann bislang nicht anerkannte Behandlungsmethoden zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht und abrechnet werden dürfen.
Der 1. Senat stellte dabei klar, dass innovative Behandlungsmethoden auch vor ihrer Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss schon zum Einsatz kommen können, wenn es um eine schwerwiegende Erkrankung geht, und die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist.
Wann die Kassen für neuartige Therapien aufkommen müssen
Demnach muss die gesetzliche Krankenversicherung für die noch nicht vom Gemeinsamen Bundeszuschuss abgenickten Therapien bezahlen, wenn
- nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und nach dem Wirkprinzip nicht von deren Schädlichkeit oder Unwirksamkeit auszugehen ist,
- die Aussicht besteht, dass die innovative Methode im Vergleich zu Standardmethoden effektiver ist und
- zu erwarten ist, dass sich eine bestehende Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum schließen lässt und schließlich muss eine Gesamtabwägung der potenziellen Vor- und Nachteile zugunsten der innovativen Behandlungsmethode ausfallen.
Keine endgültige Rechtssicherheit
Dass innovative Behandlungsmethoden unter den genannten Voraussetzungen ausnahmsweise auf Kassenkosten erbracht werden können, ist grundsätzlich erfreulich. Da die Entscheidung darüber jedoch dem Krankenhaus und der Krankenkasse obliegt, stellt sich die schwierige Frage, wie das Potenzial der Behandlung nachzuweisen ist. Da Leistungserbringer und Kostenträger oft unterschiedliche Interessen verfolgen, werden Detailfragen wohl auch weiterhin die Gerichte beschäftigen.