Die Dogmatik des Abrechnungsbetruges: Alles so einfach, wie es scheint?
Johannes T. KayserJedes Jahr entstehen den Krankenkassen durch Falschabrechnungen Millionenschäden. Der GKV Spitzenverband geht von Schäden im dreistelligen Millionenbereich aus. Die Dunkelziffer dürfte ungleich höher ausfallen. Schätzungen gehen von einem zweistelligen Milliardenbetrag aus. Schnell fällt dabei das Stichwort „Abrechnungsbetrug“. Aber wann liegt im juristischen Sinne Abrechnungsbetrug vor und warum gibt es daran zunehmend Bedenken?
Was ist ein Abrechnungsbetrug?
Unter Abrechnungsbetrug versteht man eine vorsätzlich falsche Honorarabrechnung im medizinischen oder pharmazeutischen Bereich, die den Straftatbestand des § 263 I StGB erfüllt. Dabei unterscheidet man zwei große Fallgruppen: Einerseits Leistungen, die gar nicht erbracht, aber trotzdem der Kassenärztlichen Vereinigung oder Privatpatienten in Rechnung gestellt worden sind. Andererseits lege artis durchgeführte Behandlungen, die nicht alle formellen Voraussetzungen für eine Abrechnung erfüllt haben. Insbesondere diese letztere Kategorie sorgt für einen regen Diskurs.
Wann liegt ein Abrechnungsbetrug vor?
Der Betrug schützt das Vermögen und gewährt einen auf das Vermögen bezogenen Wahrheitsschutz. Im objektiven Tatbestand des § 263 I StGB muss eine Täuschung über Tatsachen, ein Irrtum, eine irrtumsbedingte Vermögensverfügung und ein Vermögensschaden vorliegen. Im subjektiven Tatbestand sind Vorsatz und eine Bereicherungsabsicht nötig.
Unter einer Täuschung versteht man das bewusste Einwirken auf das Vorstellungsbild eines Menschen mit dem Ziel der Irreführung über Tatsachen. Die Täuschung kann ausdrücklich, durch schlüssiges Handeln oder durch Unterlassen verübt werden. Der Irrtum über Tatsachen ist eine erzeugte Fehlvorstellung von der Wirklichkeit. Daneben bedarf es einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung und eines Vermögensschadens.
Rechtliche Bedenken gegen die Struktur und Dogmatik des Abrechnungsbetruges
Jedoch gibt es unter Rechtswissenschaftlern zunehmend Kritik am Abrechnungsbetrug. So hat unter anderem Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel in seinem Aufsatz „Abrechnungsbetrug: Grenzen der Betrugsdogmatik und Zweckmäßigkeit eines Spezialstraftatbestandes“ (medstra 2019, 68-74) rechtliche Bedenken und fordert eine Neuregelung.
Täuschung: Welche Normen dürfen berücksichtigt werden?
Es wird interpretiert, dass mit dem Einreichen der Abrechnung der Arzt konkludent – durch schlüssiges Handeln – zusichern würde, dass er alle rechtlichen Voraussetzungen für die Abrechnung erfülle. Das führe zu dem Problem, dass sich der Erklärungswert über alle Normen im Vor- und Umfeld der Abrechnung erstreckt. Das scheint bedenklich, da § 263 StGB nur einen auf das Vermögen bezogenen Wahrheitsschutz liefert. Dies führe dazu, dass nur Normen, die einen Vermögensschutz bezwecken, angewendet werden dürften. Das sei aber fraglich, wenn Abrechnungsnormen primär gesundheits- oder berufsordnungspolitische Zwecke verfolgen würden.
Fehlende Klarheit von Abrechnungsnormen
Zudem seien abrechnungsrelevante Normen oft nicht eindeutig, sodass eine Normenklarheit fehle. Das könne zur paradoxen Situation führen, dass Ärzte, die eine Norm zu ihren Gunsten interpretieren, in den Verdacht eines Abrechnungsbetruges geraten könnten. Legen sie hingegen eine Norm zu ihren Ungunsten aus, könnten sie weniger Honorar abrechnen. Liegt nur ein bloßer Streit über Rechtsfragen zur Abrechnung vor, kann keine Täuschung über Tatsachen begründet werden.
Irrtum: Wie spezifisch muss die Vorstellung über den Irrtum sein?
Fragen werfe auch der Irrtumsbegriff auf. Da viele Normen dem sachgedanklichen Mitbewusstsein zugerechnet werden, sei im Falle des Abrechnungsbetruges ein klarer Bezugspunkt zu einer Vermögensverfügung wichtig. Damit seien nicht alle Normen als Grundlage möglich. So könne der Erklärungsempfänger nur dann einem Irrtum unterliegen, wenn er fälschlicherweise von der Beachtung einer Norm ausgeht, die einen unmittelbaren, inhaltlichen Bezug zur Abrechnung hat und Grundlage für die Verfügung ist.
Wer kann Ziel der Irrtumserregung sein?
Des Weiteren sei zweifelhaft, welcher Sachbearbeiter Ziel der Irrtumserregung sein müsse. Der BGH verzichte darauf festzustellen, welcher Sachbearbeiter der unbewusst Irrende gewesen sein muss. Diese generelle Annahme führe jedoch dazu, dass es nicht mehr auf den „eingeschränkten Zuständigkeitsbereich des konkreten Sachbearbeiters“ ankomme, sondern vielmehr auf die Erwartungshaltung der Institution Kassenärztliche Vereinigung. Das werfe aber systematische Bedenken auf, da § 263 StGB nur den Irrtum eines Menschen und nicht die einer Institution erfasse.
Vermögensschaden: Schaden trotz kunstgerechter Leistung?
Ebenso ist das Vorliegen eines Vermögensschadens umstritten, wenn eine Leistung zwar lege artis erbracht wird, aber aufgrund eines formellen Verstoßes gegen berufs- oder sozialrechtliche Normen nicht abgerechnet werden darf. Die Rechtsprechung bejaht dies, da kassenärztliche Leistungen nicht marktwirtschaftlich bestimmt werden könnten, die Abrechnungsfähigkeit gesetzlich geregelt sei und dem Vertrauensverhältnis zu einem Kassenarzt ein besonderer wirtschaftlicher Wert zukäme. Daher liege ein Schaden vor, wenn nicht alle formalen Voraussetzungen erfüllt seien.
Kritiker sprechen hingegen von einer unzulässigen Normativierung des Schadens. So würden Verstöße gegen diese Vorschriften im Umfeld der Abrechnung den wirtschaftlichen Wert der Leistung nicht aufheben, sondern allenfalls mindern. Vielmehr würde die kunstgerecht erbrachte, aber formell fehlerhaft abgerechnete Leistung den Kostenträger von seiner Leistungspflicht befreien. Insbesondere könnten die Überlegungen der Rechtsprechung hinsichtlich der Kassenleistungen nicht auf privat liquidierende Ärzte übertragen werden. Die strengere Ansicht der Rechtsprechung führe dazu, dass nicht mehr nur der Vermögenschutzzweck des § 263 StGB – sondern auch andere gesundheitspolitische Interessen geschützt würden.
Lösungsvorschläge
Gegen diese dargestellten Probleme lassen sich demnach drei Lösungsvorschläge ableiten: eine restriktivere Linie der Rechtsprechung, die Schaffung eines Spezialtatbestandes im StGB oder die punktuelle Schaffung von nebenstrafrechtlichen oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktionsvorschriften, die den gesundheitspolitischen Aspekten Rechnung trägt.
Fazit
Wann es tatsächlich zu durchgreifenden Reformen kommt, ist offen. Der rechtswissenschaftliche Diskurs ist jedenfalls da. Auch zeigen sich in der Rechtsprechung erste Anzeichen für eine zurückhaltendere Verfolgung des Abrechnungsbetruges, sodass jedenfalls zunehmend Probleme gesehen und in Angriff genommen werden.