Europäischer Gesundheitsdatenraum: Chancen und Risiken für die Digitalisierung
A&W RedaktionMit der zunehmenden Digitalisierung im Gesundheitswesen gibt es auch europaweit Bestrebungen, den Austausch von Gesundheitsdaten innerhalb der EU zu verbessern. Einen Ansatzpunkt bietet der von der EU-Kommission vorgestellte Gesetzesentwurf zum Europäischen Gesundheitsdatenraum.
Der Gesetzesentwurf zum Europäischen Gesundheitsdatenraum – was ist das?
Der Europäische Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space – kurz: EHD) ist ein Projekt der Europäischen Kommission, welches den EU-weiten Austausch und direkten Zugriff auf verschiedene Gesundheitsdaten für die Gesundheitsversorgung, -forschung und -politik ermöglichen soll. Im Fokus stehen hier insbesondere die elektronische Patientenakte, Patientenregister und Genomikdaten. So sollen beispielsweise Rezepte, Befunde, Impfnachweise oder Laborergebnisse über eine Smartphone-App oder den Computer ausgetauscht werden.
Warum ist die Initiative zum EU-weiten Austausch von Gesundheitsdaten entstanden?
Bisher war der Austausch von Gesundheitsdaten, beispielsweise bei elektronischen Patientenakten, zwischen den Mitgliedsstaaten auf freiwilliger Basis im Rahmen des EU-eHealth Netzwerks möglich. Jedoch würden unterschiedliche Software- und Verarbeitungslösungen, Datentypen sowie eine uneinheitliche Umsetzung der eHealth-Richtlinien den Datenaustausch einschränken. Zudem führe die Freiwilligkeit auch dazu, dass einige Mitgliedsstaaten sich nur unzureichend an dem Angebot beteiligen würden und so mittelbar gar den Patienten und der Forschung schaden könnten. Dabei fallen insbesondere Länder wie Deutschland und Polen auf, welche der Digitalisierung im Gesundheitswesen generell hinterher eilen.
Welche Vorteile soll es beim EU-weiten Austausch von Gesundheitsdaten geben?
Denkt man zum Beispiel an einen französischen Patienten, welcher nach einem Herzinfarkt in Deutschland behandelt werden müsste, könnte man unkompliziert über eine europäische Patientenakte an dessen Vorerkrankungen, Allergien, aktuellen Medikamentenplan und ältere Arztbriefe gelangen. Damit könnte man sich unter Umständen doppelte Untersuchungen sparen, hätte wichtige Informationen sofort zur Hand und könnte nahtlos an bereits im Herkunftsland begonnene Behandlungskonzepte anknüpfen. So ließen sich Ein- oder Umstellungsprobleme bei Medikamenten, bekannte Allergien oder zeitliche Verzögerungen durch beispielsweise Übersetzungen, fehlende Kenntnis oder Unsicherheiten vermeiden. Eine solche effizientere Behandlung könnte auch Kosten sparen.
Zudem könnte ein besserer, vernetzter Datenaustausch die Forschung an seltenen Krankheiten erleichtern und auch eine schnellere Entwicklung bzw. Verbesserung von Medikamenten oder anderen medizinischen Geräten für die Industrie ermöglichen. Darüber hinaus sollen auch durch die Vernetzung bessere (gesundheits-)politische Entscheidungen bei Pandemien durch Regierungen getroffen werden.
Welche Nachteile oder Gefahren könnte es geben?
Einer der Hauptprobleme ist der Datenschutz. So kritisieren beispielsweise Psychotherapeuten, dass durch die Plattform der Mensch immer gläserner würde. So sei weder bekannt, wer, wann, welche Daten in den EHDS hochladen müsse, noch wie genau ein Pseudonymisierungsverfahren für Forschungszwecke auszusehen hätte. Ebenso müsse man sich auch die sehr hohe Sensibilität von Psychotherapiedaten oder gar psychotherapeutischen Protokollen vergegenwärtigen und nicht etwa mit Laborbefunden gleichsetzen.
Auch wenn die Europäische Kommission ein hohes datenschutzrechtliches Niveau verspricht, räumt sie auch selbst ein, dass trotz moderner Anonymisierungsmethoden ein Restrisiko für eine Entschlüsselung bestehe.
Ferner ist noch unklar, wer genau Zugriff auf die Daten bekommen soll. Bisweilen melden sich schon Lobbyvertreter zu Wort, dass auch IT- und Pharmaunternehmen ein Zugriff ermöglicht werden solle. So ist auch noch unklar, welche Interessenvertreter in dem Europäischen Gesundheitsausschuss sitzen sollen, welcher ebendiese Rechte festlegt.
Kritiker sehen auch die Gefahr, dass neben der Verletzung sensibler Daten und einer möglichen Profitmacherei, fehlende digitale Kompetenzen bei Patienten zu einem schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung führen könnten.
In praktischer Hinsicht stellt sich auch die Frage, welche Kosten auf die Ärzteschaft für mögliche Systemerweiterungen zu der bestehenden elektronischen Patientenakte hinzukommen und ob es dafür Zuschüsse gäbe.
Nicht zuletzt gibt es auch seitens der EU-Mitgliedsstaaten Bedenken, dass ihre nationalen Entscheidungsbefugnisse im Bereich der Gesundheitspolitik durch das EHDS beschnitten werden könnten.
Wann soll das Projekt abgeschlossen sein und wie viel wird es kosten?
Die Implementierung der Infrastruktur wird auf ca. 810 Millionen Euro geschätzt.
Planmäßig soll das Projekt 2025 abgeschlossen sein. Davor bedarf es jedoch der Zustimmung des Europäischen Parlaments und der Mitgliedsstaaten. Aufgrund der skizzierten Nachteile ist jedoch von noch jahrelangen Planungen auszugehen.
Ausblick und Fazit
Das Projekt polarisiert wie selten eines. Auf der einen Seite wird von „digitaler Revolution“ und einem bahnbrechenden Durchbruch in der Digitalisierung des Gesundheitssystems gesprochen. Auf der anderen Seite finden sich dystopische Stimmen wieder, welche gar die Gefahr einer Entmenschlichung sehen. Einigkeit besteht wohl dahingehend, dass eine Vernetzung durchaus Vorteile für die Gesundheitsversorgung, Forschung und Verwaltung haben kann. Die Gretchenfrage ist aber, wie exakt ein solches System datenschutzrechtlich ausgestaltet werden kann, um die Autonomie der Bürger an seinen eigenen Daten zu gewährleisten und einem potenziellen Missbrauch der Daten entgegenzutreten. Noch bleiben viele (datenschutzrechtliche) Fragen ungeklärt. Daher ist nicht absehbar, ob, wann und wie tatsächlich das System kommen wird. Bis dahin werden wohl noch Jahre ins Land gehen und viele handfeste Bedenken zu beackern sein.
Autor: Johannes T. Kayser