Aufklärung bei potenzieller Schwerbehinderung des ungeborenen Kindes
Judith MeisterWie detailliert muss ein Arzt eine Schwangere über verdächtige Befunde einer pränatalen Untersuchung informieren, wenn diese einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen könnten?
Es gibt menschliche Tragödien, die selbst für Juristen nur schwer zu greifen sind. Zum Beispiel die Frage, ob ein Kind „als Schaden“ im rechtlichen Sinne betrachtet werden kann. Sie stellt sich zum Beispiel, wenn das Baby mit einer Behinderung auf die Welt kommt und die Eltern – hätten sie um diesen Umstand gewusst – die Schwangerschaft abgebrochen hätten.
Immer wieder müssen sich Gerichte mit solchen und ähnlichen Konstellationen auch in Arzthaftungsprozessen beschäftigen. So auch in einem aktuellen Fall, der den Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigte.
Im konkreten Fall ging es um eine Frau, die nach der Geburt eines gesunden Kindes ihre zweite Schwangerschaft abgebrochen hatte, weil bei ihrem Ungeborenen das Turner-Syndrom diagnostiziert worden war.
Das komplexe Problem des „wrongful birth“
Als die Frau zum dritten Mal schwanger wurde, führte ihr Arzt in der 20. Schwangerschaftswoche eine sonografische Feindiagnostik durch. Dabei ließen sich der beide Hirnhemisphären verbindende Balken (corpus callosum) nicht und eine weitere essenzielle Hirnstruktur (cavum septum pellucidum) nicht gut darstellen. Weitere sechs Wochen später wurde sonografisch eine Erweiterung der Hirnwasserkammer festgestellt (Ventrikulomegalie). Ein kurz darauf angefertigtes MRT ergab eine komplexe Mittellinienstörung mit Hydrozephalus, Balkendysgenesie und Falxhypoplasie. Diese Befunde teilte der Arzt der Frau auch mit, zudem ließ er die Schwangeren wissen, dass ihr Kind möglicherweise „motorisch-kognitive Beeinträchtigungen“ haben könnte.
Nach der Geburt stellte sich heraus, dass das Kind am Aicardi-Syndrom leidet. Es liegen eine Balkenagenesie, eine Polymikrogyrie, ein Hydrozephalus sowie Plexuszysten im Gehirn und chronische Subduralhämatome vor. Die Augen sind fehlgestaltet, das Kind ist in seiner kognitiven und motorischen Entwicklung stark retardiert. Es kann nicht laufen, krabbeln, sprechen oder greifen. Sein Schluckreflex ist schwer gestört und es leidet unter einer starken therapieresistenten Epilepsie.
Gravierende Folgen auch für die Mutter
Die Mutter selbst leidet seit der Geburt unter Depressionen, Schlaflosigkeit sowie einer Anpassungs- und Angststörung. Sie gab an, sie hätte bei Kenntnis einer möglichen Behinderung des Kindes die Schwangerschaft abgebrochen. Als Indiz für den Wahrheitsgehalt dieser Aussage verwies sie auf den Abbruch ihrer zweiten Schwangerschaft.
Vor diesem Hintergrund verlangen die Eltern Schadenersatz und Schmerzensgeld von den behandelnden Ärzten. Sie stützen sich dabei auf die Aussage eines Gutachters. Dieser gab an, dass nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen davon auszugehen sei, dass es selbst bei einer isolierten Balkenagenesie – also ohne Hinzutreten weiterer Komplikationen – in zwölf Prozent der Fälle zu schweren Behinderungen des Kindes kommen könne, also Beeinträchtigungen, die über Entwicklungsverzögerungen und Lernbehinderungen hinausgehen. Dieses Wissen aber, so die Eltern, habe der Arzt ihnen vorenthalten.
§ 218 a entscheidet (mit) über die Arzthaftung
In erster Instanz war die Klage der Eltern erfolglos. In der zweiten Instanz wendete sich das Blatt und auch der BGH befand, dass die Ärzte ihre Pflicht zur pränatalen Beratung der werdenden Mutter verletzt hätten (BGH; Az. VI ZR 295/20).
Der BGH hat das Urteil der Vorinstanz daher aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Hier muss nun geklärt werden, ob die Frau im konkreten Fall trotz der bereits sehr weit fortgeschrittenen Schwangerschaft noch straffrei hätte abtreiben dürfen, da ein Schadenersatzanspruch gegen den Arzt nur durchsetzbar ist, wenn ein Abbruch rechtmäßig gewesen wäre.