Verdacht auf häusliche Gewalt – was tun?
Melanie HurstHäusliche und/oder sexualisierte Gewalt kommt in allen Gesellschaftsschichten, Altersklassen und Kulturen vor. Ärztinnen und Ärzte sehen die Anzeichen meist zuerst – und sind nicht selten mit einer Mauer des Schweigens konfrontiert. Was sie unternehmen können, um Patientinnen und Patienten zu helfen.
Eine Frau kommt mit Rippenprellungen und einem blauen Augen zum Arzt. Sie sei zu Hause von der Leiter gefallen und brauche eine Krankschreibung. „So kann ich ja nicht zur Arbeit.“ Bei der anschließenden Untersuchung stellt der Arzt fest, dass sich am Körper der Frau noch andere Hämatome zeigen, die erkennbar nicht vom selben Tag stammen können. Auf die Frage, ob die älteren blauen Flecken wirklich auch auf den Sturz von der Leiter zurückgehen, reagiert die Patientin mit einem trotzigen: „Ich bin eben manchmal etwas ungeschickt.“ Auch nachdem der Arzt auf seine Schweigepflicht verwiesen hat, bleibt die Patientin beharrlich bei ihrer Version des Unfallhergangs. Dann verlässt sie, fast schon überstürzt, die Praxis.
Immer mehr Menschen werden Opfer häuslicher Gewalt
Häusliche Gewalt ist keine Seltenheit. Aktuelle Zahlen, die das Bundeskriminalamt (BKA) und das Bundesfamilienministerium im November 2020 vorlegten, zeichnen ein erschreckendes Bild: Danach wurden im vergangenen Jahr 141.792 Menschen in Deutschland Opfer von Gewalt in der Partnerschaft. Gezählt wurden neben Körperverletzung, Nötigung, Stalking, Vergewaltigung und Zwangsprostitution auch 301 versuchte und 140 vollendete Tötungsdelikte. „Fast jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet“, fasst Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) zusammen.
Wichtig ist allerdings auch das Bewusstsein dafür, dass häusliche Gewalt keineswegs ein Schicksal ist, das ausschließlich Frauen ereilt. Zwar sind nach den Zahlen des BKA 81 Prozent der Opfer weiblich. Jedoch weist die Behörde ausdrücklich darauf hin, dass Partnerschaftsgewalt zum Nachteil männlicher Personen „von zunehmender Relevanz“ zu sein scheint. Indiz dafür ist die – fast kontinuierliche – Steigerung der Anzahl männlicher Opfer in den vergangenen Jahren. Inzwischen sind 19 Prozent der Opfer den jüngsten Zahlen zufolge Männer.
Warum die Opfer schweigen
Eines allerdings verbindet die Opfer von häuslicher Gewalt, gleich welchen Geschlechts: Sie decken vielfach die Täter. Und sie kommen keineswegs nur mit Blutergüssen oder typischen Verletzungen in die Praxis, wie die Patientin im Eingangsbeispiel. Wenn Patienten ohne erkennbare organische Ursache über Bauch-, Kopf- oder Rückenschmerzen klagen, sollten Ärztinnen und Ärzte hellhörig werden und sich nach etwaigen Problemen im häuslichen Umfeld erkundigen. Auch eine Häufung von Migräneanfällen, Schlafstörungen, plötzlich auftretende Panikattacken oder Depressionen kann auf häusliche Probleme hindeuten. In solchen Verdachtsfällen ist allerdings extremes Fingerspitzengefühl gefragt, denn nur die wenigsten Opfer offenbaren ihr Martyrium bereitwillig. Gerade Frauen glauben oft, dass sie eine Mitschuld an den Entgleisungen ihres Partners trifft und schämen sich, weil sie keine normale Beziehung führen. Ein weiterer Grund für das Schweigen der Opfer ist die Folge vor den negativen Konsequenzen und erneuten Misshandlungen zu Hause.
Auch bei männlichen Betroffenen ist Scham ein weit verbreiteter Grund, sich nicht zu offenbaren. Ein Mann, der von seiner Frau geschlagen wird, passt nicht in das Rollenbild des „harten Kerls“, mit dem die meisten Männer noch immer aufwachsen.
Noch höher ist die Hemmschwelle bei sexualisierter Gewalt gegenüber Männern. Hier scheinen laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums die größten Hindernisse vorzuliegen, sich mit den traumatischen Erlebnissen einem Dritten zu offenbaren. Laut der Erhebung „fehlen nicht nur eine entsprechende Sprache und entsprechende Bilder”. Auch der Mechanismus der „Scham der Unmännlichkeit“ wirke als großes Hindernis. Die Studie stammt zwar schon aus dem Jahr 2005. Die dort beschriebenen Mechanismen wirken heute aber noch immer.
Ärztinnen und Ärzte, die den Verdacht haben, dass ein Patient oder eine Patientin zu Hause körperlich oder seelisch misshandelt wird, sollten daher sehr feinfühlig agieren und die Betroffenen nicht zu einer Aussage drängen.
Türen offenhalten
Um dem Thema häusliche Gewalt das Tabuhafte zu nehmen, raten Kommunikationsexperten zunächst dazu, die Frage nach Gewalt zum festen Bestandteil jeder Erstanamnese zu machen und selbstverständlich einzureihen in Erkundigungen nach etwaigen Gewichtsschwankungen, Krankheiten in der Familie oder dem Alkohol- und Tabakkonsum.
Diese Standardisierung senke die Hemmschwelle, sich dem heiklen Thema zu nähern – und zwar sowohl beim Arzt als auch bei den Patienten.
Wichtig ist es zudem, den potenziellen Opfern ausreichend Zeit für die Antwort zu geben, auch wenn das Wartezimmer voll und die Zeit knapp ist. Denn wer sich unter Druck gesetzt fühlt, mauert im Zweifel noch mehr. Erst recht, wenn es um ein so schwieriges und hochprivates Thema geht. Ist eine Patientin oder ein Patient erkennbar noch nicht bereit, die negativen Erlebnisse offen anzusprechen, sollten Ärztinnen und Ärzte das akzeptieren. Zugleich sollte aber klargemacht werden, dass das Gesprächsangebot weiterbesteht und der oder die Betreffende jederzeit die Möglichkeit hat, darauf zurückzukommen.
Hilfreich ist außerdem eine emotionale Ansprache. Wer dem Patienten glaubhaft das Gefühl vermittelt, dass er sich Sorgen macht und Hilfe anbietet, darf darauf vertrauen, dass der Betreffende sich irgendwann öffnet und die Wahrheit sagt.
Auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten leisten oft einen wichtigen Beitrag, dass der Patient sich ein Herz nimmt und über seine Probleme spricht. Ärztinnen und Ärzte sollten in Verdachtsfällen daher stets betonen, dass niemand, auch kein Familienmitglied, das Recht hat, einen anderen zu verletzen. Und dass es für ein solches Verhalten auch in schwierigen Zeiten keine Entschuldigung gibt.
Dies gilt umso mehr, als häusliche Gewalt, anders als zum Beispiel die Prügelei auf einem Volksfest, nicht aus einer konkreten Situation heraus entsteht. In der Regel ist sie vielmehr Ausdruck eines andauernden Machtgefälles und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Täter und Opfer. Ist der Bann gebrochen und berichtet ein Patient oder eine Patientin von Gewalterfahrungen, sollte der Arzt bzw. die Ärztin zunächst eine Untersuchung anbieten, um das Ausmaß der körperlichen und psychischen Gewalt zu erfassen.
Hier ist es vor allem wichtig, das Opfer mit ins Boot zu holen und jeden weiteren Schritt vorab genau zu besprechen. Keinesfalls dürfen sich die Betroffenen überrumpelt fühlen. Nur, wenn Opfer wieder ein Gefühl von Autonomie und Selbstbestimmtheit bekommen, werden sie es schaffen, sich gegen ihren Peiniger zur Wehr zu setzen und gegebenenfalls rechtliche Schritte einzuleiten. Um hierfür eine valide Basis zu schaffen, müssen Ärztinnen und Ärzte ihre Untersuchungsergebnisse gerichtsfest dokumentieren. Dazu gehört zunächst die möglichst wörtlich wiedergegebene Anamnese zum Sachverhalt. Was die Befunde angeht, ist die Unterscheidung zwischen alten und neuen Verletzungen besonders wichtig. Sie kann dazu beitragen, den Opfern vor Gericht eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Ganz gleich, ob es um zivil- oder strafrechtliche Verfahren oder einen Streit um das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder geht.
Standardisierung statt Stigmatisierung |
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Die Frage nach häuslicher Gewalt sollte fester Bestandteil jeder Erstanamnese sein und ebenso selbstverständlich wirken wie Fragen nach Gewichtsverlust, Krankheiten in der Familie oder dem Alkohol- und Tabakkonsum. |
Beraten und begleiten
Wichtig ist auch, klinisch nicht relevante Läsionen zu dokumentieren und die Spuren der Gewalttat zu sichern. Bei Sexualdelikten sollten Ärztinnen und Ärzte, wo möglich, auch DNA-Material sichern, etwa durch einen Abstrich. Für eine gerichtsfeste Dokumentation sollten die Verletzungen zudem mit Fotos belegt werden.
Sind die Verletzungen versorgt und die Spuren gesichert, müssen Patienten die Entscheidung treffen, ob und wie sie sich gegen den Täter zur Wehr setzten wollen. Hier können Ärztinnen und Ärzte bestärkend einwirken und auf Hilfsangebote hinweisen. Einige Angebote stehen rund um die Uhr anonym und kostenfrei zur Verfügung. So etwa das „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Emotionale Unterstützung und Informationen über rechtliche Schritte bietet auch das Opfertelefon des Weißen Rings.
Vertrauensvolle Ansprechpartner
Egal, wie die Entscheidung des Patienten oder der Patientin ausfällt, Ärztinnen und Ärzte sollten diese nicht bewerten. Gleichzeitig sollten sie signalisieren, dass sie als vertrauensvolle Gesprächspartner zur Verfügung stehen und auch gegenüber engen Familienangehörigen an die ärztliche Schweigepflicht gebunden sind (mehr dazu im zweiten Teil der Fortbildung).
Mag es manchmal auch unverständlich sein, dass ein Opfer von einer Anzeige absieht und wenig später erneut mit eindeutigen Verletzungen in der Praxis erscheint: Solange keine Gefahr für Leib und Leben besteht, müssen erwachsene Betroffene die Herren des Verfahrens bleiben – auch wenn aus ärztlicher Sicht ein anderer Ausgang wünschenswert wäre.
Behutsame Annäherung |
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Häusliche Gewalt führt nicht nur zu körperlichen Verletzungen, auch die psychosomatischen und psychischen Folgen können dramatisch sein. Hinzu kommen vielfach schwerwiegende Auswirkungen auf die familiären und sozialen Beziehungsstrukturen, auch und gerade, wenn Kinder im Haushalt leben, die entweder Gewalt mit ansehen müssen oder selbst Opfer von Übergriffen werden. Eine sensible und qualifizierte Gesundheitsversorgung für Betroffene kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Gewaltkreislauf zu durchbrechen und vor Gewalt zu schützen. Dies gilt umso mehr, als Ärztinnen und Ärzte oft einer der ersten Ansprechpartner sind, dem sich Opfer offenbaren. Aber auch wenn Patienten verdächtige Verletzungen aus Schuld- oder Schamgefühlen mit vermeintlich harmlosen Stürzen oder atypischen Unfällen erklären, sollten Ärztinnen und Ärzte Hilfe anbieten, ohne zu bewerten oder ein bestimmtes Handeln erzwingen zu wollen. Ein vorurteilsfreies Herangehen erleichtert es den Betroffenen oft, Hilfe anzunehmen. |
Zwischen Schweigepflicht und Opferschutz
Häusliche Gewalt ist keine Privatsache. Dennoch schweigen viele Opfer, statt Täter anzuzeigen. Ärztinnen und Ärzte, die Schaden von ihren Patienten abwenden wollen, bringt das in Konflikte. Wann die Schweigepflicht die Offenbarung eines Falles erlaubt und warum der Schutz von Kindern besonders schwierig ist.
Ärztinnen und Ärzte nehmen eine zentrale Stellung ein, wenn es darum geht, Gewaltbelastungen bei ihren Patienten zu erkennen und den Betroffenen zu helfen, aus einem potenziell gefährlichen häuslichen Umfeld auszubrechen.
Besonders wichtig ist eine ärztliche Intervention, wenn auch Kinder unter den Umständen leiden. Sei es, weil sie selbst Opfer von Gewalt werden, weil sie Gewalt mit ansehen müssen oder weil sie selbst bereits dazu übergegangen sind, Konflikte gewaltsam lösen zu wollen. Das ist inzwischen recht häufig der Fall. Laut der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat etwa ein Viertel der 11- bis 17-Jährigen bereits Gewalterfahrungen gesammelt, manche als Täter, manche als Opfer und manche in beiden Rollen.
Das ist ein alarmierender Befund, zumal sich häusliche Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend oft auf die nächsten Generationen übertragen. Die früheren Opfer werden nicht selten selbst zu Tätern. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die geschlagenen Kinder von früher auch als Erwachsene wieder Opfer werden. Hinzu kommt, dass sich ein Umfeld der Gewalt nachhaltig negativ auf die Gesundheit von Kindern auswirkt – und zwar nicht nur durch körperliche Verletzungen. Auch die psychischen und psychosozialen Folgen sind gravierend.
Prävention ist möglich |
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Während widrige Lebensumstände das Gewaltrisiko steigern, wirken ein ausreichendes Selbstwertgefühl, die aktive Bewältigung von Problemen sowie eine gute Unterstützung durch Gleichaltrige und Erwachsene positiv auf Heranwachsende. |
Massives Risiko für die Gesundheit
Laut RKI können selbst geringfügig von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche massive Störungen entwickeln. Täter zeigen häufiger aggressiv-dissoziale Verhaltensauffälligkeiten und weisen ADHS-Diagnosen auf. Vielfach zeigen sie auch Tendenzen zu Depressivität und Somatisierung. Jungen, Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus, Kinder mit Migrationshintergrund sowie Schüler und Schülerinnen an Hauptschulen finden sich laut KiGGS besonders häufig in dieser Gruppe wieder. Ausschließliche Gewaltopfer hingegen haben oft soziale Probleme mit Gleichaltrigen, Essstörungs- und Schlafprobleme treten verstärkt auf. In der Literatur wird diskutiert, ob Merkmale wie körperliche Schwäche, Übergewicht, das Tragen einer Brille oder eine Sprachbeeinträchtigung mit einem überdurchschnittlich häufigen Opferstatus einhergehen. Fakt ist, dass Kinder mit Behinderungen ein besonders hohes Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden.
Am stärksten sind die psychopathologischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen, die sowohl Täter als auch Opfer sind. Betroffen hiervon sind laut KiGGS vorwiegend Jungen. Sie zeigen vielfach hyperaktives Verhalten, haben emotionale und soziale Probleme, Konzentrationsschwächen oder Wahrnehmungsstörungen.
Kinderärzte oder Niedergelassene, die minderjährige Patienten behandeln, sollten beim Auftreten solcher Störungen daher stets eine akribische, feinfühlige Ursachenforschung betreiben.
Schwierige Dreierbeziehung
Das ist nicht immer einfach. Zum einen sind gerade Pubertierende nicht unbedingt dafür bekannt, Außenstehenden spontan ihr Herz auszuschütten. Und selbst, wenn eine gewisse Redebereitschaft besteht, stehen Ärztinnen und Ärzte in einer solchen Konstellation vor dem Problem, dass der Behandlungsvertrag meist zwischen ihnen und dem Sorgeberechtigten des Kindes bzw. des minderjährigen Jugendlichen besteht – und das sind potenzielle Täter. Dennoch ist der Vertragspartner des Arztes grundsätzlich auch dessen erster Ansprechpartner. Allerdings wird der Behandlungsvertrag, juristisch betrachtet, zugunsten des Kindes geschlossen. Das bedeutet: Essenzielle Berufspflichten und auch die ärztliche Schweigepflicht gelten nicht nur mit Blick auf die Eltern, sondern auch gegenüber dem minderjährigen Patienten.
Entbindung von der Schweigepflicht
Diese Dreierkonstellation macht es allerdings nicht leichter, im konkreten Fall richtig auf eine offensichtliche oder drohende Gewalteskalation zu reagieren. Denn Ausnahmen von der Schweigepflicht sind nur vorgesehen, wenn der Patient oder der Sorgeberechtigte des minderjährigen Patienten den Arzt von der Schweigepflicht entbunden hat, ein rechtfertigender Notstand im Sinne des § 34 StGB vorliegt oder ausnahmsweise eine sonstige Offenbarungspflicht besteht.
Fehlt eine Entbindung von der Schweigepflicht oder verweigert auch ein erwachsener Patient, der häuslicher Gewalt ausgesetzt war, eine Offenbarung, hat der Arzt diesen Wunsch nach Schutz der Privatsphäre grundsätzlich zu respektieren. Nach § 34 StGB darf er im Falle eines ernst zu nehmenden Verdachts zum Schutz vor weiteren körperlichen und seelischen Schäden und bei einer offensichtlichen Wiederholungsgefahr aber ausnahmsweise die Behörden benachrichtigen. Eine Pflicht, dies zu tun, besteht nach § 34 StGB nicht.
Interessenabwägung wird gefordert
Wichtig: Die Offenbarung eines ärztlichen Geheimnisses ohne Einwilligung ist nach dem Gesetz nur zum Schutz eines höherrangigen Rechtsguts erlaubt. Solche Rechtsgüter sind etwa das Leben oder die körperliche Integrität eines anderen Menschen. Ein Verstoß gegen die Schweigepflicht ist aber selbst in diesen Fällen nur gerechtfertigt, wenn er nötig ist, um eine unmittelbar bevorstehende Gefahr abzuwenden. Im Fall einer Kindesmisshandlung mag das der Fall sein, wenn die Eltern zum Beispiel alkoholkrank sind und ihrem Kind schon öfter schwere Verletzungen zugefügt haben und das Risiko einer jederzeitigen weiteren Misshandlung droht.
Doch selbst, wenn offensichtlich ist, dass ein Kind in schwierigen Verhältnissen lebt, müssen Ärztinnen und Ärzte bei der geforderten Interessenabwägung sehr akribisch vorgehen, da die Durchbrechung der Schweigepflicht im Rahmen des § 34 StGB nur zulässig ist, wenn die Gefahr für den (minderjährigen) Patienten sich nicht auf andere Weise abwenden lässt. Das Risiko muss so hoch sein, „dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“. Eine Rechtsgutverletzung in der Vergangenheit reicht hingegen in der Regel nicht aus, um eine Ausnahme von der Schweigepflicht zu rechtfertigen.
Sonderregeln nach dem Bundeskinderschutzgesetz
Bleibt die Frage, ob sich das Recht zur Offenbarung der Gewaltanwendung möglicherweise sogar zu einer Pflicht verdichten kann. Orientierung geben die Regeln des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Dessen § 4 schreibt vor: „Werden Ärztinnen oder Ärzten, (….) in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird.“
Das klingt zunächst nach einer klaren Ansage. Jedoch enthält auch das KKG keine berufsrechtliche ärztliche Pflicht, bei einer Kindeswohlgefährdung Informationen an das Jugendamt weiterzuleiten. Hält ein Arzt ein solches Vorgehen zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen für geboten, ist dies nach dem KKG aber möglich. Voraussetzung dafür ist, dass er zuvor die vorgegebenen Eskalationsstufen durchläuft.
Gewalt äußert sich nicht nur in körperlichen Übergriffen
Damit eine Ausnahme von der Schweigepflicht möglich wird, müssen dem Arzt bei seiner beruflichen Tätigkeit zunächst „gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt werden“. Bei körperlichen oder sexuellen Übergriffen oder einer schweren Verwahrlosung sind die Anzeichen oft sehr deutlich. Schwieriger ist es, seelische Gewalt zu erkennen. Sie liegt beispielsweise vor, wenn das Kind von wichtigen Bezugspersonen gedemütigt und herabgesetzt oder durch Liebesentzug, Gleichgültigkeit und Ignorieren bestraft wird. Auch wenn Kinder und Jugendliche für die Bedürfnisse der Eltern missbraucht werden, etwa, weil sie Streitigkeiten mit anhören müssen oder in Beziehungskonflikten instrumentalisiert werden, kann dies so dramatische Folgen haben, dass ein Einschreiten des Arztes gerechtfertigt erscheint.
Keine Alleingänge ohne Rücksprache mit dem Patienten
Haben Ärztinnen oder Ärzte den begründeten Verdacht, dass ein Kind häusliche Gewalt erleidet, müssen sie im nächsten Schritt versuchen, mit dem minderjährigen Patienten und – soweit erforderlich – auch mit den Eltern das Problem zu erörtern. Das gilt jedoch nicht, wenn ein solches Elterngespräch das Kindeswohl zusätzlich gefährden könnte. Erst wenn auch dieser Schritt erfolglos bleibt, hat der Arzt das Recht (nicht jedoch die Pflicht), das Jugendamt zu informieren.
Nur Ärztinnen und Ärzte, die sich an diese Regeln halten und auch die Eltern über die Weitergabe der Daten ans Jugendamt informieren, sind im zivil- und strafrechtlichen Sinne von der Schweigepflicht befreit. Um juristischen Ärger zu vermeiden, empfiehlt es sich, den gesamten Prozess ausreichend zu dokumentieren. Keinesfalls dürfen Ärztinnen und Ärzte unter Missachtung der ärztlichen Schweigepflicht direkt das Familiengericht über ihren Verdacht informieren.