Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Praxis

Lena Marie Meier hat braune Haut und schwarze Locken. Die 25-Jährige ist studierte Physiotherapeutin. Während einer Lymphdrainage fragt eine Patientin, wo sie herkomme. Lena Meier antwortet freimütig: Sie ist Deutsche, in Deutschland geboren, ihr Großvater ist Afroamerikaner, der sich in ihre deutsche Großmutter verliebte und blieb. Die Patientin reagiert belehrend: „Nur weil eine Kuh im Pferdestall geboren wird, ist sie noch lange kein Pferd!“

Auch sexualisierten Rassismus hat die Hamburgerin erlebt. Ein Patient kommentierte vulgär Teile ihres Körpers im Kontext ihrer Herkunft. Lena Meier hat um ein Pseudonym gebeten, um eine Überidentifikation ihrer Person mit dem Thema zu vermeiden, jedoch auch, um Anfeindungen vorzubeugen. Den hier beschriebenen Personen war die Tragweite ihrer Äußerungen vermutlich nicht bewusst. Doch diese waren rassistisch.

Oft weniger ernst genommen

Rassismus ist eine hierarchisierende und diskriminierende Einordnung von Menschen. Sie geschieht immer noch. Die persönlichen Grenzen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte werden leichtfertiger überschritten. Immer wieder fühlen sie sich nicht ernst genommen. Auf den Kanälen der Black Communities auf den Sozialen Medien schildern Patientinnen und Patienten gelegentlich Enttäuschungen beim Arztbesuch, die sie mit ihrer Hautfarbe in Verbindung bringen.

Wie kann das sein? Ärztinnen und Ärzte sind weltoffen, empathisch, zugewandt. Und doch könnte sich bisweilen im Kopf unbemerkt ein Stereotyp bilden, das Einfluss auf die Interaktion hat. Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund werde unbewusst oft weniger Kompetenz zugeschrieben, statt unvoreingenommen ihren Bildungsstand und ihre Fähigkeiten zu erkunden, sagt Armel Ogougbe aus Benin. Einen Grund dafür sieht er in der meist defizitorientierten medialen Präsentation. „Wenn im deutschen Fernsehen Bilder aus Afrika laufen, dann werden die Menschen dort meist als hilfsbedürftig gezeigt“, sagt der Student der Sozialarbeit, der seine Bachelorarbeit zur beruflichen Situation von Fachkräften mit Migrationshintergrund in Deutschland verfasst. „Menschen mit schwarzer Hautfarbe stehen so immer wieder vor der Aufgabe, die eigene Kompetenz und Bildung erst gesondert unter Beweis zu stellen.“

Neue Erfahrungen durch Kontakt

„Grundsätzlich haben wir alle Stereotype im Kopf“, weiß Dr. Solmaz Golsabahi-Broclawski, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, die das Medizinische Institut für transkulturelle Kompetenz in Bielefeld leitet (www.mitk.eu). „Diese Stereotype werden neu besetzt, indem man in den Kontakt geht und neue Erfahrungen sammelt.“ Dass Schwarze in Berufsfeldern wie der Medizin in Deutschland unterrepräsentiert sind, lässt Stereotype versteifen. Wäre es ein gewohntes Bild, von einem Arzt oder einer Ärztin mit afrikanischem Migrationshintergrund behandelt zu werden, würde das Stereotyp neu besetzt.

Doch derzeit erleben Schwarze und People of Color immer wieder, dass sie stärker und tendenziell negativer bewertet werden als jemand, der optisch der Mehrheitsgesellschaft angehört. Die Vernetzung mit anderen gibt dann Unterstützung. Empowerment-Gruppen und Workshops (zum Beispiel von „Black in Medicine“, blackinmedicine.de) bieten von Rassismus Betroffenen einen sicheren Raum, um Erlebtes zu verarbeiten und mentale Belastungen zu bewältigen. Allerdings braucht es darüber hinaus auch den Austausch mit Weißen, um strukturelle Benachteiligungen und blinde Flecken in den Denkmustern zu überwinden. Das gilt auch für die medizinische Versorgung.

Neue Referenzwerke schaffen – und Referenzwerte überdenken

Wie sieht die Wanderröte nach einem Zeckenbiss auf dunkler Haut aus? Wie ein Herpes zoster? Gängige medizinische Lehrbücher zeigen immer noch nicht Symptome auf dunkler Haut und auf heller Haut nebeneinander. Deshalb werden diese bei Schwarzen und People of Colour leichter übersehen. Der Londoner Medizinstudent Malone Mukwende hat darum das Buch „Mind the Gap: A Handbook of Clinical Signs in Black and Brown Skin“ geschrieben. Über die dazugehörige Website www.blackandbrownskin.co.uk können Ärztinnen und Ärzte Bilder einsenden, mit dem Ziel, eine globale medizinische Ressource aufzubauen. Freilich darf aber die Überwindung struktureller Benachteiligung nicht an Einzelnen hängen bleiben.

Auch die sogenannten Race-Korrekturen gehören reflektiert. Dieser Versuch, Menschen besser einschätzen zu wollen, zeigt schon in seiner Begrifflichkeit eine Übersimplifizierung und Übergeneralisierung. Race-Korrekturen basieren auf Studien mit Teilnehmenden, deren Lebenssituation womöglich einen größeren Einfluss auf die Gesundheit hatte als eine genetische Disposition – so etwa die Annahme, das Lungenvolumen von Menschen mit afrikanischer oder asiatischer Abstammung sei geringer als das von Menschen europäischer Abstammung, ein sozioökonomisches Artefakt? Eine Langzeitstudie, die 2021 im ATSJournal (ATSJournal 2021; DOI: 10.1164/rccm.202107-1612OC) erschien, fand keine Evidenz für eine bessere Vorhersage durch race-basierende Referenzwerte bei der Spirometrie.

Mehr Diversität in Forschung und klinischem Alltag

Dass der weiße Mann nicht als Maß aller medizinischen Dinge gelten kann, ist klar. Dennoch ist er in Studien überrepräsentiert. Priorität der medizinischen Forschung sollte also sein, schnell für eine adäquate Repräsentation von Menschen aller geographischen Herkünfte und Geschlechter zu sorgen. Ein möglicher Ansatz wäre auch die personalisierte Medizin. Die individuelle Betrachtung, basierend auf Datenschutz und Freiwilligkeit, nehme den Fokus von der Herkunft eines Patienten oder einer Patientin, erklärt Dr. Theo Brigge, Digital Health Management an der Hochschule Macromedia, der sich im Verein „m4 Personalisierte Medizin e.V.“ (www.m4.de) engagiert.

Eine pauschale Einordnung nach Ethnie mache keinen Sinn, so Brigge. Schließlich treffen Genvarianten nicht auf alle Menschen mit einem bestimmten ethnischen Hintergrund zu. Vielmehr handele es sich in der Regel um statistische Verteilungen. So kann eine Ethnie A beispielsweise zu 90 Prozent von einer bestimmten Veranlagung betroffen sein, eine Ethnie B zu 22 Prozent. Das bedeutet aber auch, dass zehn Prozent der Ethnie A mit einer anderen Veranlagung leben.

„Studien sollten möglichst viele Ethnien pharmakogenomisch auf Variabilität hinsichtlich gewünschter Arzneimittelwirkungen sowie unerwünschter Arzneimittelnebenwirkungen und Arzneimittelwechselwirkungen untersuchen“, fordert Brigge. Sofern genetische Unterschiede pharmakologisch behandlungsrelevant sind, gebe es aus klinischer Sicht die Möglichkeit, individuell genetische Tests vorzunehmen. „Diese Tests müssen nicht zwangsläufig das komplette Genom des Patienten erfassen“, erklärt Brigge. „Sie können auch ausschließlich bestimmte Merkmale fokussieren.“

Den Menschen in seiner Einzigartigkeit sehen

Eine Sensibilität für Häufigkeiten genetischer Variationen ist dennoch hilfreich. So hat die Medizinhistorikerin Prof. Constance Hilliard möglicherweise einen bisher nicht beachteten Grund entdeckt, weshalb Afroamerikanerinnen und -amerikaner häufiger an Brust- und Prostatakrebs erkranken, jedoch seltener an Osteoporose. Eine in Westafrika häufige Genvariante sorge für eine bessere Kalziumabsorption, schrieb Hilliard im „Journal of Cancer Research & Therapy“ 2018. Allerdings könnte das bedeuten, dass die Empfehlungen der Ernährungsfachgesellschaften hierzulande möglicherweise für manche Menschen überdosiert sind. Eine Prüfung und gegebenenfalls Diversifizierung scheint sinnvoll, auch wenn sich daraus eben keine neue Passepartout-Schablone ergibt.
„Jeder Mensch ist ein Individuum“, betont Dr. Golsabahi-Broclawski und weist auf die steigende Zahl der Kinder hin, deren Elternteile von verschiedenen Kontinenten stammen. Oftmals haben diese Elternteile wiederum eine bunte Geschichte. Je mehr wir als Menschheitsfamilie zusammenwachsen, desto wichtiger wird der genaue, individuelle Blick, auch und gerade in der Medizin.

„Alles berücksichtigen, was hilfreich sein könnte!“

Das Stichwort Othering beschreibt das Ausschließen anderer Menschen durch Fragen nach ihrer „tatsächlichen“ Herkunft. Wie sollten Ärztinnen und Ärzte im Praxisalltag damit umgehen?

Frau Dr. Golsabahi-Broclawski, was ist das Problem daran, jemanden zu fragen, wo er herkommt?

Dr. Golsabahi-Broclawski

Foto: privat

Es kommt auf die Intention der Frage an: Liegt ein aufrichtiges Interesse zugrunde oder ist es eine Form der Begaffung? Durch die ständig wiederkehrende Frage nach der „wirklichen Herkunft“ hören Betroffene: Du gehörst nicht ganz zu uns, du bist nicht genau hier zu Hause.

Sollte also bei einer medizinischen Untersuchung die Frage nach der Herkunft nicht gestellt werden?

Doch, sie ist hochrelevant! Als Ärztin oder Arzt müssen Sie Enzyme zuordnen, Krankheitsbilder, die Häufigkeit von genetischen Erkrankungen in bestimmten Ländern. Das gilt genauso für Menschen weißer Hautfarbe. Allein die Tatsache, dass Sie aus Mitteleuropa kommen, macht Sie prädestiniert für eine Schilddrüsenunterfunktion. Verschiedene Blutungserkrankungen wie etwa der Faktor VII sind endemisch in Großbritannien. Das darf ich als Ärztin nicht ignorieren. Die ist ein Teil der medizinischen Exploration.

Also besser mehr fragen als zu wenig.

Man sollte alles berücksichtigen, was hilfreich sein könnte. Ich frage immer, aus welcher Ecke die Patientinnen und Patienten stammen. Dann kann ich zuordnen, welche Krankheiten dort häufiger vorkommen. Beispielsweise habe ich mit einer Patientin so herausgefunden, dass sie eine Phenylketonurie hat, die typisch ist für die kaukasische Seidenstraße. Sie hatte die minore Variante, welche sich schleichend bemerkbar macht. Aus falscher Toleranz etwas nicht zu fragen, ist in der Arzt-Patienten Beziehung hinderlich und gefährlich.

Dabei ist die Genetik nur ein Teil des Gesamtzusammenspiels, das zu Gesundheit oder Krankheit beiträgt…

Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten sind stark prägend. Das sieht man in der Onkologie. Es gibt Krebskrankheiten, die für bestimmte Regionen endemisch sind. In der zweiten und dritten Generation passen sich ihre Gewohnheiten der Umwelt an und in Folge an die Krankheiten der autochthonen Bevölkerung.

Dr. Solmaz Golsabahi-Broclawski ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztliche Leiterin des Medizinischen Instituts für transkulturelle Kompetenz in Bielefeld.

Autorin: Deborah Weinbuch