Eltern mit hohem Sicherheitswunsch: Kinder den ganzen Tag mit FFP-Masken in die Schule schicken?
A&W RedaktionDer Mund-Nasen-Schutz im Unterricht ist in vielen Schulen als Corona-Maßnahme Pflicht oder zumindest empfohlen. Manche Eltern wünschen sich zudem mehr Eigenschutz für ihre Kinder und geben ihnen statt Alltagsmasken oder OP-Masken lieber FFP2-Masken mit. Doch sind partikelfiltrierende Masken für Heranwachsende wirklich zumutbar?
“Alle zehn Minuten muss ich heimlich lüften“, vertraut Lukas (14, Name von der Redaktion geändert) seinem Klassenkameraden an, während er seine Finger unter die FFP2-Maske schiebt. „Aber mit meinen Eltern kann ich nicht darüber reden.“ Lukas’ Eltern statten ihn täglich mit partikelfiltrierenden Halbmasken aus und halten ihn an, diese im Ganztagsbetrieb der Schule, etwa sieben Stunden täglich, durchgängig zu tragen, auch im Unterricht. Sie habe ihrem Sohn „eingeimpft“, wie wichtig das sei, schreibt Lukas’ Mutter in den Elternchat auf WhatsApp. Lukas gibt sich große Mühe. Er möchte seine Eltern, beide Ende 40 und übergewichtig, nicht gefährden – und auch keinen Unbekannten. Doch mittlerweile wird es schwierig: „Die ersten Tage ging es, aber jetzt kann ich nicht mehr“, sagt er.
Kürzere Zeiten im Arbeitsschutz
Neben Lukas tragen vier weitere Kinder der Klasse täglich FFP-Masken im Unterricht, also etwa 17 Prozent. Ein Monitoring ihres Befindens findet nicht statt. ARZT & WIRTSCHAFT wollte wissen, ob das lange Tragen partikelfiltrierender Halbmasken für Jugendliche unbedenklich ist. Laut Hersteller M3 sind die FFP2-Masken ausschließlich an Erwachsenen getestet und für diese zugelassen. In den ersten zwei Monaten nach Unterrichtsbeginn trugen die Kinder zudem oftmals importierte KN95- und ähnliche Masken, von denen sich bei Stichproben ein erheblicher Anteil laut Bundesregierung als fehlerhaft erwiesen hatte (A&W berichtete). Ein häufiger Mangel war ein zu hoher Atemwiderstand gewesen. Ebenfalls irritierend: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) empfiehlt, FFP2-Schutzmasken maximal 75 Minuten am Stück zu tragen mit mindestens 30-minütiger Erholungspause. Diese Anhaltswerte, basierend auf Erfahrung, werden allerdings unter Einbeziehung eines Arbeitsmediziners auf den Träger, sein Umfeld und seine Anforderungen angepasst, um eine Überbeanspruchung zu vermeiden. Bei arbeitsfähigen Menschen so viel Vorsicht, bei Schülern hingegen Wildwuchs?
Atmen fühlt sich schwerer an
Für viele Ärztinnen und Ärzte gehört das Tragen von Schutzmasken momentan ebenfalls zu ihren langen Arbeitstagen. Noch gehe das ganz gut, schreibt uns auf Anfrage Dr. Annette Lingenauber, Sprecherin des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. In der Praxis seien Probleme im Zusammenhang mit FFP-Masken bislang nicht Thema gewesen. Doch im heimischen Kontext berichten die Kinder bisweilen von Übelkeit – oder auch schlicht von Überdruss. „Kinder sind keine Maschinen. Früher oder später ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das unbequeme Ding einfach abnehmen, sehr groß“, sagt Dr. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) gegenüber ARZT & WIRTSCHAFT. „Das heißt, die Eltern wiegen sich in falscher Sicherheit. Die Anordnung einer Maßnahme, die nicht umsetzbar ist, macht keinen Sinn!“ FFP-Masken, so erklärt Dr. Rodeck, sind einschränkender als Alltagsmasken bei der subjektiven Bewertung der freien Atmung. Und was macht der Mensch, wenn er sich beim Atmen beeinträchtigt fühlt? Er nimmt die Maske ab. Diese Einschätzung bestätigt Lukas’ Klassenkamerad. „Die ersten sechs Wochen haben die FFP-Träger durchgezogen, aber jetzt ziehen die meisten ihre Masken eher random an“, sagt er und meint: ohne erkennbares Muster mit immer größeren Pausen. „Da ist es besser, eine Alltagsmaske zu tragen“, so Rodeck und erinnert zugleich an die begrenzten medizinischen Ressourcen.
Kinder beim Sport ohne Maske
Ob es zu einer gewissen CO2-Retention kommt? Dazu fehlen die Daten. „Es wäre spekulativ, das als mögliche Ursache für die geschilderten Kopfschmerzen heranzuziehen“, sagt Dr. Rodeck. „Möglicherweise spielt der psychologische Effekt durch die unbequeme Maske eine größere Rolle.“ Die Stellungnahme der DGKJ von August gelte nach wie vor. „Auf Mund und Nase von Kindern sollten diese Maskentypen keine Rolle spielen“, so Rodeck.
Es gebe theoretische Risiken, erklärt er. „Literatur dazu gibt es nur zu kleinen Gruppen im Erwachsenenalter.“ Auswirkungen auf die Atemphysiologie sind demnach unbestritten. „Der Atemwiderstand steigt durch die partikelfiltrierenden Halbmasken. Bei erwachsenen Patienten mit einer COPD hat dies auch Effekte auf die CO2-Abatmung. Aus diesen Erkenntnissen hat man abgeleitet, dass sich auch bei Kindern mit schweren chronischen Erkrankungen wie etwa schwerem Asthma Ähnliches abspielen könnte.“
FFP-Masken können eine verstärkte Atemarbeit nötig machen, weil durch sie der sogenannte Totraum vergrößert wird, in dem kein pulmonaler Gasaustausch stattfindet. Bei Gesunden erfordert dies schlicht mehr Anstrengung. Wer aufgrund von Vorerkrankungen zu dieser Kompensation nicht in der Lage ist, kann auch eine Gasaustauschstörung erleben. Klinische Effekte von Schutzmasken auf Gesunde wurden bisher nicht belegt. Bei körperlicher Anstrengung wie beim Sport sollte dennoch laut DGKJ keine Maske getragen werden – egal welcher Art.
Realität der Pandemie akzeptieren
Psychologisch sei es allerdings eine Katastrophe, ein ständiges Schuldbewusstsein bei Kindern zu erzeugen, falls sie doch einmal die Maske absetzen. Die Langzeiteffekte dieses Käseglocken-Impulses sollten von Eltern mitbedacht werden. „Man kann die Belastung nicht wegbügeln“, betont Dr. Rodeck. „Man kann den Kindern nicht nur einfach sagen, da müsst ihr jetzt durch.“ Wenn ihnen von Eltern immer wieder gesagt wird, sie sollten Symptome wie Kopfweh oder Übelkeit – egal welcher Genese – ignorieren, hat das womöglich auch einen Effekt für ihr weiteres Leben.
Würden die AHA-Regeln und Lüften konsequent an der Schule umgesetzt und würde sich die Gesellschaft verantwortungsbewusst verhalten, bräuchte ohnehin niemand in der Klasse eine FFP-Maske. Noch einen ungeliebten Punkt spricht Rodeck an: Garantierten Schutz gibt es jenseits der totalen Selbstisolation – mit ihrem eigenen Schadenspotenzial – nicht. Ein Restrisiko bleibt, auch wenn man sich selbst noch so sehr bemüht.
Checkliste
Fördern des Tragens von Mund-Nasen-Bedeckungen (MNB)
- Die DGKJ empfiehlt ab zehn Jahren eine MNB in der Schule, die am Platz abgelegt werden darf.
- Je besser alle mitmachen, desto weniger Angst haben Einzelne.
- Manche Kids haben auch bei MNB Angst, zu wenig Luft zu bekommen. Hilfreich: Erklären, dass das komische Gefühl nur durch stärkeres Pusten und Saugen entsteht.
Wer ist eigentlich zuständig? |
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Wer behält das Befinden der Kinder in dieser neuen Situation im Blick? Die Verantwortung wird hin und her geschoben. Die befragte Hamburger Schulleitung und Schulbehörde verwiesen auf die Eltern, auf das Gesundheitsamt oder das Robert Koch-Institut. Das RKI schrieb jedoch auf Anfrage von A&W, dass man dort für das Setting „Schule“ beziehungsweise „Kinder“ nicht zuständig sei. |