Gibt es Rassismus in deutschen Arztpraxen?
A&W RedaktionSeit Februar 2020 hat die Hessische Landesärztekammer einen Rassismusbeauftragten. Wir haben mit ihm über sein Amt, die ersten Beschwerden sowie die Frage gesprochen, wo im Praxisalltag Gedankenlosigkeit aufhört und Rassismus anfängt.
Herr Dr. Girth, seit Februar 2020 sind Sie nicht nur Menschenrechtsbeauftragter der Hessischen Landesärztekammer, sondern auch deren Rassismusbeauftragter — der erste einer Ärztekammer in Deutschland überhaupt. Hat die Ärzteschaft ein Rassismusproblem?
Ich frage mal andersherum: Warum sollte sie das nicht haben? Ärztinnen und Ärzte sind Menschen dieser Gesellschaft. Wir wissen aus verschiedenen Umfragen, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung ein Problem mit Rassismus haben. Da bilden Ärzte keine Ausnahme. Hier aktiv einzugreifen, das Problem zunächst zu sichten, um dann etwas dagegen tun zu können – das ist unser Anliegen.
Wie sind Sie zum Amt des Rassismusbeauftragten gekommen?
Den Ausgangspunkt bildete eine Initiative der Hessischen Landesregierung gegen Rassismus. Die Landesärztekammer wollte sich gerne beteiligen und hat entschieden, einen Rassismusbeauftragten zu ernennen. Dass ich es geworden bin, liegt ein bisschen in der Natur der Sache. Seit 20 Jahren bin ich Menschenrechtsbeauftragter der Hessischen Landesärztekammer. Wer in der Vergangenheit ein Problem hatte, der hat sich ohnehin an mich gewandt. Dass nun explizit auch ein Rassismusbeauftragter ernannt wurde, hat vor allem Signalwirkung. Es soll zeigen: Wir haben das Problem erkannt, wir möchten es publik machen und wir möchten es Menschen, die Opfer von Rassismus geworden sind, leichter machen, sich an uns zu wenden.
Kann Ihre Initiative in Hessen als Vorlage für andere Landesärztekammern dienen?
Ich bin ziemlich sicher, dass sie einen Effekt haben wird. Diese Erfahrung haben wir schon beim Amt des Menschenrechtsbeauftragten gemacht. Die Berliner Kammer hat vor über 20 Jahren als erste Kammer einen Menschenrechtsbeauftragten ernannt. Das wiederum hat die Bundesärztekammer auf den Plan gerufen, die mitgezogen hat. Wir waren die dritte Kammer. Es gab damals eine heftige Diskussion, vor allem darüber, ob es dafür ein extra Amt braucht. Der Vorstand war damals der Meinung, er könne das miterledigen.
Wer wendet sich an Sie als Rassismusbeauftragten?
Es sind im Wesentlichen Patienten, die sich über Ärztinnen und Ärzte beschweren. Im Moment bearbeiten wir drei Fälle. Das klingt wenig, aber es dauert eben, das Amt muss erst bekannt werden. Erst dadurch erfahren Patienten überhaupt, dass sich die Landesärztekammer um rassistische Erfahrungen im Gesundheitswesen kümmert. Erst dadurch haben sie überhaupt den Mut, uns anzurufen oder uns zu schreiben und einen Vorfall zu melden.
Wo verläuft die Grenze zwischen Gedankenlosigkeit und Rassismus?
Das ist eine der schwersten Fragen überhaupt, es ist in meiner Arbeit fast nie eindeutig. Kaum ein Arzt oder eine Ärztin macht offen rassistische Bemerkungen. Rassismus nachzuweisen, ist daher oft schwierig. Auf jeden Fall sind die Anzeigen, die hereinkommen, eine Bearbeitung wert. Auf jeden Fall scheint ihnen ein problematisches Verhalten von Ärzten zugrunde zu liegen. Und natürlich besteht dann, wenn es sich zum Beispiel um einen schwarzen Patienten handelt, der Verdacht, dass Rassismus eine Rolle spielt.
Können Sie einen oder zwei Ihrer Fälle skizzieren?
In einem Fall geht es um ein schwarzes Kind, das sich einen Gegenstand in die Nase geschoben hatte. Die Mutter bekam ihn nicht heraus. Der Arzt hat sich nach Angaben der Mutter sehr aufgeregt und hektisch gezeigt, was natürlich nicht zielführend ist. Er habe herumgebrüllt, sich unhöflich verhalten und wollte die Mutter aus dem Behandlungszimmer schicken. Die Mutter stellte die Frage, ob es sich hier auch um ein rassistisches Problem handelt – zu Recht.
In einem anderen Fall wurde eine Arabisch sprechende Patientin wegen eines Schwangerschaftsabbruchs von einer Begleitperson aus dem Sozialbereich zu einer Ärztin begleitet. Die Ärztin begann über die Hässlichkeit arabischer Sprachen zu schwadronieren. Das ist durch die Begleiterin belegt. Ein solches Verhalten hat natürlich in einem Arzt-Patienten-Gespräch nichts zu suchen und muss aufgeklärt werden.
Werden Patienten mit Migrationshintergrund von Ärzten anders behandelt?
So generell kann man das sicher nicht sagen. Aber man muss wach bleiben und manches Verhalten hinterfragen. Es ist menschlich, dass Ärzte, die einen Patienten nach dem anderen behandeln müssen und unter Zeitdruck stehen, gestresst reagieren, wenn zum Beispiel Verständigungsprobleme auftreten. Die Anamnese ist ein ganz entscheidender Punkt in der Behandlung zwischen Arzt und Patient. Wenn man merkt, dass man aus sprachlichen Gründen keine Antwort bekommt, ist das unbefriedigend, weil man seine Professionalität nicht ausspielen kann und weil ein wichtiger Punkt dessen, was man gelernt hat, nicht zum Tragen kommt. Man kann dann nur noch Labor machen und Apparatemedizin. Dann kann es zu Irritationen kommen.
Wie reagieren Ärztinnen und Ärzte, wenn Sie sie mit einer Beschwerde konfrontieren?
Es gibt eine Gruppe von Ärzten, denen es ehrlich leidtut, was passiert ist. Es ist natürlich unangenehm für die Kollegen, von einer offiziellen Stelle der Landesärztekammer angesprochen zu werden. Das Gespräch hat dann einen klärenden Effekt, es bleibt im Gedächtnis. Der Arzt oder die Ärztin wird sich in Zukunft anders verhalten. Das ist durchaus häufiger der Fall. Dann ist die Sache auch erledigt. Ich bin nicht das Vorzimmer der Rechtsabteilung der Landesärztekammer. Wenn ich aber mit jemandem spreche, der nicht einsichtig ist und darauf beharrt, dass er korrekt gehandelt hat und das offensichtlich nicht der Fall war, dann scheue ich mich nicht, die Rechtsabteilung einzuschalten. Mein primäres Ziel ist es aber, im Gespräch Konflikte zu lösen und die Parteien aufeinander zuzuführen.
Was passiert, wenn Sie einen Vorfall der Rechtsabteilung melden?
Die Rechtsabteilung macht erst einmal nichts anderes als ich: audiatur et altera pars. Der Arzt oder die Ärztin bekommt die Vorwürfe vorgelegt und muss antworten. Im Zweifel geht der Fall an das Präsidium, das entscheidet, ob weiter ermittelt wird. Kommt es zu einem berufsrechtlichen Verfahren, reichen die Rechtsfolgen von einer Ermahnung über Geldstrafen bis hin zum Entzug der Approbation.
„Rassismus ist überall“, sagt die Autorin Alice Hasters, „im Alltag, in der Familie und der Liebe.“ Sie hat ein Buch mit dem Titel geschrieben: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. Demnach weisen viele das Problem von sich. Sie sagen: „Ich bin doch kein Rassist!“ Woher kommt dieser Abwehrreflex?
Sie kennen das Beispiel sicher: Einem schwarzen Kind wird ungefragt durch die Haare gefahren. „Das sind ja so schöne Haare“, sagt derjenige, der das tut. Natürlich ist das rassistisch. Aber derjenige wird sagen: „Ich bin doch kein Rassist!“ Ich glaube, dass solche Verhaltensweisen tief in unserer Geschichte, also der Kolonialismusgeschichte und der deutschen Geschichte, verankert sind. Sie wirken sehr lange nach. Wir übernehmen Verhaltensweisen von den Eltern. Aber wir müssen lernen, uns solche Mechanismen bewusst zu machen und uns ihnen zu widersetzen.
Was können Sie nach etwas über einem halben Jahr über Ihr Amt als Rassismusbeauftragter sagen?
Ich freue mich sehr über das große Presseecho, es macht die Stelle bekannter. Ansonsten wundere ich mich ein bisschen, wie wenig Fälle gemeldet worden sind. Man könnte sich natürlich freuen, weil es keinen Rassismus in der Medizin zu geben scheint. Aber ich weiß, dass es andere Gründe hat. Zum einen ist die Anlaufstelle noch nicht bekannt genug. Zum anderen müssen wir die Kontaktmöglichkeiten für Betroffene niederschwelliger gestalten, zum Beispiel auf unserer Website. Daran arbeiten wir gerade.
DR. ERNST GIRTH |
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Die Fragen stellte Ina Reinsch