Wirtschaftsnachrichten für Ärzte | ARZT & WIRTSCHAFT
Pädiatrie

Seit 22 Jahren ist Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Matthias Reinhold im Beruf. Einen derartigen Anfragedruck wie jetzt hat er noch nie erlebt, schildert er im Gespräch mit ARZT & WIRTSCHAFT.

Herr Dr. Reinhold, wie sieht Ihr Praxisalltag aktuell aus?

Unsere Arbeitsbelastung ist dramatisch gestiegen. Im letzten halben Jahr habe ich im Grunde durchgängig elf Stunden pro Tag gearbeitet. Trotzdem kann ich von acht Anfragen maximal nur eine annehmen.

Bedeutet das, dass viele junge Menschen unbehandelt bleiben?

Ja, oder dass sie schon viel zu lange unbehandelt geblieben sind. Ein psychiatrischer Grundsatz lautet: Je früher man interveniert, desto besser sind die Heilungschancen. Das ist aber durch die jetzige Überlastungssituation ad absurdum geführt.

Was sind die Hauptprobleme der Kinder und Jugendlichen?

Stille Störungen haben dramatisch zugenommen: Depressionen, Angst, sozialer Rückzug, Einsamkeit, Zwangsstörungen, Selbstgefährdung bis hin zu Suizidalität, vor allem bei den 12- bis 17-Jährigen. Der Kinder- und Jugendreport 2021 Sachsen auf Basis von DAK-Daten zeigt: Depressionen sind im Jahr 2021 gegenüber 2019 um 48 Prozent gestiegen. Essstörungen sind in der Fallzahl, aber auch in der Schwere der Symptomatik explodiert. Weltweit hat die Psyche junger Menschen extrem gelitten. Die Kinderhilfsorganisation Save the Children teilt anhand der Daten des „Oxford COVID-19 Government Response Tracker“ mit: Von mehr als 13.000 befragten Kindern in 46 Ländern berichten 83 Prozent von einem Anstieg negativer Gefühle. Diese wurden stärker, je länger die Schulen geschlossen waren. Dabei blieben in den Industrieländern bis zu 50 Prozent der psychischen Erkrankungen unbehandelt, in den Entwicklungsländern sogar bis zu 85 Prozent.

Wer hätte gedacht, dass junge Leute die Schule so vermissen?

Selbstwirksamkeitserfahrungen sind unfassbar wichtig. Diese werden durch Lernerfolge rückgemeldet und durch eine emotionale Gegenseitigkeit. Der Spaß- und Lustgewinn durch altersgerechte Kontakte kann Grübelschleifen beenden. Nicht zuletzt ist eine Alltagsstruktur wichtig, gerade auch für jene, die sich mit dem sozialen Rückzug und dem hohen Medienkonsum zunächst ganz wohl gefühlt hatten.

Wie kann das soziale Miteinander präventiv wirken?

Nehmen wir ein Mädchen mit einer Neigung zur Anorexie. Fällt ihre Peer Group weg, so fehlt die Rückmeldung jener, deren Meinung für sie maßgeblich ist: „Dein Körper ist in Ordnung“ oder „Ich habe das Gefühl, du isst ein bisschen wenig“. Nun verbringt sie viel Zeit vor Medien mit bearbeiteten Fotos und schaukelt sich mit anderen Betroffenen in Chatgruppen hoch. Das reale Körperbild schwindet.

Wie wichtig ist eine frühe Intervention bei Anorexie?

Die Anorexie ist die gefährlichste Störung im Kindes- und Jugendalter. Eine von zehn Anorexien endet im Langzeitverlauf tödlich. Wenn ein Mensch einmal in dieser Mager-Sucht steckt, dann ist es sehr schwierig, dort wieder herauszukommen.

Werden denn wenigstens diese Betroffenen adäquat versorgt?

Aus meiner Sicht leider oftmals nicht. Wenn sie nicht vom Spezialisten geschickt werden, kann es Monate dauern, bis Betroffene einen ersten Ambulanztermin in der Klinik bekommen. Bei Indikationsstellung zu stationärer Behandlung beträgt die Wartezeit bis zur stationären Aufnahme in der Regel ein halbes Jahr.

Gibt es bestimmte typische Risikofaktoren für Anorexie?

Neben einer genetischen Veranlagung haben Menschen mit Anorexie einen hohen Anspruch an sich selbst. Sie stabilisieren sich über Leistungserfolge. Meist kommen sie aus einkommensstärkeren Schichten und haben ein fragiles Selbstwertgefühl. Durch das gewollte Hungern erleben sie ein subjektives Gefühl von Überlegenheit durch Selbstkontrolle und anfangs eine Endorphinausschüttung. Die eigene Körperschema-Wahrnehmung ist verzerrt.

Was begünstigt eine Adipositas?

Das betrifft eher Kids aus Familien, wo weniger Augenmerk auf gesunde Ernährung, gemeinsame Essensrituale und Aktivitäten gelegt wird. Der Frust über den Mangel an sozialen Erfahrungen wird hier mit einem Über-Essen reguliert.

Welche Ängste treiben Kinder und Jugendliche besonders um?

In der ersten Hälfte der Pandemie dominierte eher eine realistische, wenn auch einschränkende Angst. Für Kinder, mit ihrer höheren Imaginationsfähigkeit, war dies belastender als für Erwachsene. Kinder stellen sich schlimme Eventualitäten lebendiger vor und malen sie sich detailreich aus, gerade die Vier- bis Elfjährigen.

Nehmen Kids die Welt nun als einen bedrohlicheren Ort wahr?

Sie sind mit vielen Krisen konfrontiert. Heute Vormittag war ein siebenjähriger Junge bei mir, der hat nur noch Angst: Wie weit ist es bis Moskau und wann wird der Russe da sein? Dieser Junge kann nicht mehr schlafen. Dass er diese Angst generalisieren wird, ist wahrscheinlich.

Können Eltern das verhindern?

Oft leiden die Eltern auch an einer Angststörung. Wenn es dann wenig andere Kontakte gibt und keine therapeutische Intervention, sind psychisch selbst belastete Eltern ein Verstärker der Störungen.

Führt die Unterbehandlung zu mehr chronifizierten Störungen?

50 Prozent der psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter beginnen in der Kindheit oder Jugend. Zudem ist bei einer vorliegenden Erkrankung das Risiko, eine weitere psychische Erkrankung zu bekommen, um das Dreifache erhöht. Je später man interveniert, desto schwieriger und hochbelasteter ist die Prognose.

*Dr. med. Matthias Reinhold, Facharzt für Kinder – und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin, behandelt Kinder ab vier und Adoleszente bis zum Alter von 22 Jahren. Er betreut im Team mit Sozialpädagogen, Psychotherapeuten und Sonderpädagogen im Quartal ca. 400 Familien.

Die Fragen stellte Deborah Weinbuch